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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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werden sie …«
    Michael lachte. Linda war von einer kreativen Triebkraft, die in seinen Augen eine ganz besondere Form von Erotik besaß. Er hatte einmal einen langen Artikel über den Künstler Christo und seine Frau Jeanne-Claude gelesen. Die beiden hatten – vielfach gemeinsam – spektakuläre Mammutprojekte erfunden: Sie umspannten riesige Schluchten mit orangefarbenen Tüchern oder umsäumten Inseln in einer Bucht mit rosafarbenen Plastikringen, um dann wenige Wochen später alles wieder zu entfernen, was einmal Kunst
gewesen war,
als hätte es das Ganze nie gegeben. Die beiden, dachte Michael, würden
verstehen
, was er und Linda geleistet hatten.
    Er schaltete die Musik ab, die aus den Lautsprechern kam. »Meinetwegen« sagte er in ironischem Ton, als machte er einen Witz, den nur sie beide verstehen konnten, »keine Loretta Lynn für Nummer 4.«
     
    Jennifer konnte nicht mehr sagen, ob sie bei Bewusstsein war oder nicht. Mit geöffneten Augen war es ein Albtraum. Mit geschlossenen Augen war es ein Albtraum. Sie fühlte sich völlig kaputt, als ob ein Blutegel ihr langsam, aber sicher allen Lebenssaft aus den Adern saugte. Sie hatte sich noch nie groß Gedanken darüber gemacht, wie es sich anfühlte zu sterben, doch sie war sicher, dass genau das jetzt mit ihr geschah. Wenn sie aß, konnte das nicht verhindern, dass sie verhungerte. Wenn sie trank, verdurstete sie trotzdem. Sie krallte die Finger in Mister Braunbär, doch jetzt flüsterte sie ihrem Vater zu: »Ich komme, Daddy. Warte auf mich. Ich bin bald da.«
    Im Krankenhaus hatte man sie nur ein einziges Mal in sein Zimmer gelassen. Sie war noch klein gewesen und hatte Angst gehabt. An jenem Spätnachmittag hatte er, von Maschinen umgeben, die seltsame Geräusche machten und von denen Schläuche in seine dünnen Arme führten, im Dämmerlicht in seinem Bett gelegen. Früher hatte er sie hochgehoben und durchs Zimmer gewirbelt, doch die Arme, die sie im Krankenhaus sah, brachten nicht einmal die Kraft auf, ihr über das Haar zu streicheln. Es war ihr Vater, aber auch wieder nicht, und sie war verwirrt und verängstigt gewesen. Sie hätte ihn gerne berührt, traute sich aber nicht, weil sie fürchtete, selbst die kleinste Zärtlichkeit könnte ihn zerbrechen. Sie hatte sich gewünscht, dass er lächelte und ihr sagte, es würde alles wieder gut. Doch selbst dazu war er nicht mehr imstande. Seine Augenlider zuckten, und er schien zwischen Schlafen und Wachen zu wechseln. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, das käme von den Mitteln, die sie ihm gegen die Schmerzen gaben, doch ihr war es so vorgekommen, als ob der Tod schon mal bei ihm Maß nahm wie bei einem Anzug. Sie hatten sie aus dem Zimmer gescheucht, bevor die Maschinen das Unvermeidliche anzeigten. Sie wusste noch, dass sie dachte, der Mann dort auf dem Bett könne nicht derselbe Mann sein, den sie als ihren Vater kannte. Es musste ein Betrüger sein.
    Doch jetzt war offenbar dasselbe mit ihr passiert: Alles, was Jennifer ausgemacht hatte, war ausgelöscht.
    Es gab kein Entkommen. Außerhalb ihrer Zelle und der Haube über ihrem Kopf gab es keine Welt mehr. Es gab keine Mutter, keinen Scott, keine Schule, keine Straße in ihrer Nachbarschaft, kein Zuhause, kein Zimmer mit ihren Sachen. Nichts dergleichen hatte je existiert. Es gab nur den Mann und die Frau und die Kameras. So war es von Anfang an gewesen. Sie war in der Zelle geboren und würde darin sterben.
    Sie stellte sich vor, dass es bei ihr wie bei ihrem Vater im Krankenhaus wäre. Sie starb scheibchenweise, langsam, aber unerbittlich. Jennifer musste daran denken, wie ihr Vater ganz am Anfang zu ihr gekommen war und ihr gesagt hatte, er sei krank. »Aber keine Angst, meine Kleine. Ich bin eine Kämpfernatur. Ich lege mich mächtig ins Zeug. Und du kannst mir dabei helfen. Mit deiner Hilfe pack ich das. Wir beide zusammen.«
    Hatte er aber nicht. Und sie hatte ihm nicht helfen können. Kein bisschen. Es tat ihr leid. In dem Winkel ihres Kopfes, in dem all diese Erinnerungen abgespeichert waren, hatte sie ihm schon Hunderte, Tausende Male gesagt, wie leid es ihr tat.
    Zum ersten Mal seit ihrer Gefangenschaft hatte sie plötzlich nicht mehr das Bedürfnis zu weinen. Keine Tränen auf den Wangen. Kein Schluchzen, das ihr den Hals zuschnürte. Die Muskeln in ihren Armen und Beinen, das steife Rückgrat – alles war erschlafft. Sosehr er auch gekämpft haben mochte, am Ende hatte es ihm nichts gebracht. Die Krankheit hatte gesiegt. Bei ihr war

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