Der Professor
es genauso. Sie konnte nichts dagegen tun.
Ein einziger Gedanke war ihr geblieben: Falls sie die Chance hatte zu kämpfen, bevor sie starb, wäre das immerhin besser, als sich ohne Gegenwehr von ihnen töten zu lassen. Dann könnte sie ihrem Vater, wenn sie ihn wiedersah, in die Augen blicken und sagen:
Ich hab’s genau wie du mit aller Macht versucht, Dad. Die waren einfach zu stark für mich.
Und dann konnte er zu ihr sagen:
Das hab ich gesehen. Ich hab das alles gesehen. Ich weiß, du hast gekämpft, mein Schatz. Ich bin stolz auf dich.
Das würde ihr genügen, versicherte sie stumm dem Bären.
38
A drian hatte das Gefühl, als flösse auf einmal Strom statt Blut in seinen Adern. Er starrte auf den Fernsehbildschirm und merkte, wie Jahre von ihm abfielen, und er wusste, dass er es sich nicht mehr leisten konnte, alt und verwirrt zu sein. Er musste den Teil von sich zurückerobern, der unter den Ablagerungen des Alters und der Krankheit verschüttet war.
»Soll ich noch eine Website ausprobieren?«, fragte Wolfe. Adrian konnte nicht sagen, ob aus seinen Worten die nächtliche Erschöpfung oder das echte Bedürfnis durchklang, voranzukommen. Wolfe beugte sich immer noch zu dem Bild des Mädchens unter der Haube vor. Adrian war klar, dass Wolfe auch für den Fall, dass sie hier nicht fündig wurden, zu Whatcomesnext.com zurückkehren würde, sobald Adrian ihn verließ. Wolfes Stimme klang heiser wie die eines Verdurstenden, der vor sich eine Oase entdeckt. Es schien, als hätte sich die Erregung wie ein mächtiger Geruch über das Zimmer gelegt.
Adrian zögerte. Brian schrie ihm geradezu ins Ohr, er solle auf der Hut sein, und so war sich Adrian bewusst, dass er jetzt keinen Fehler machen durfte. Der tote Anwalt und Bruder erteilte ihm ziemlich widersprüchliche Befehle:
Jetzt musst du dich beeilen, aber geh äußerst umsichtig vor!
»Wissen Sie was«, sagte Adrian langsam, als könne er seiner Lüge damit Glaubwürdigkeit verleihen, »ich glaube, das ist nicht die richtige Website …«
»Okay«, antwortete Wolfe und griff nach der Tastatur.
»Aber wir sind nahe dran. Ich meine, das ist die Richtung, in der wir suchen müssen.«
Wolfe hielt inne, während er das Bild auf dem Fernseher in sich aufsog. Egal, wie müde er war oder wie ausgelaugt oder hungrig und durstig oder wie sehr er von etwas anderem in seinem Leben abgelenkt wurde – die Ressourcen seiner Zwanghaftigkeit waren allemal stärker. Der unmittelbare Anschauungsunterricht zu Phänomenen, die er in klinischen Tests immer wieder studiert und nachgestellt hatte, war für Adrian faszinierend. Fast hätte er sich gestattet, in die Haltung der akademischen Wissbegier zu verfallen, hätte ihn nicht das Gezeter seines Bruders auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht.
Wolfe sagte: »Nahe dran gibt’s nicht, Professor. Entweder ist es Klein-Jennifer, oder sie ist es nicht.«
Indem er das »Klein-Jennifer« geflissentlich überhörte, antwortete Adrian: »Versteh schon, Mister Wolfe. Ich hab sie eben nur kurz gesehen und bin mir nicht vollkommen sicher.« Er war sich hundertprozentig sicher, wollte es aber nicht sagen.
»Also, dieses Tattoo – entweder ist es echt oder gefälscht. Genauso wie die Narbe. Wenn sie in die Kamera sagt, sie sei achtzehn, dann ist das entweder die Wahrheit oder gelogen, und mir persönlich sieht das nach einer verdammten Lüge aus. Aber sagen Sie’s mir, Professor. Was ist es? Das ist Ihr Fachgebiet. Jedenfalls ist es schon spät, und ich denke, wir machen besser Schluss für heute.«
Wahrheit oder Lüge.
Adrian war immer noch auf die Hilfe des Triebtäters angewiesen. Er betrachtete die Gestalt unter der Haube. Dieses Mädchen war an einem fernen Ufer gefangen. Es lag an ihm, eine Brücke zu finden. »Nur damit ich verstehe, womit wir es hier zu tun haben: Wenn ich rauskriegen wollte, wo diese Website angesiedelt ist, was müsste ich …« Er gab sich Mühe, die Frage in beiläufigem, unbekümmertem Ton zu stellen, auch wenn sein Manöver wohl allzu durchschaubar war. Dennoch blieb er dabei und baute auf Wolfes Ermattung. »Ich meine, wir haben uns quer durchs Internet gesurft. Aber woher wollen wir wissen, wo wir physisch hinmüssen, sobald wir Jennifer erst im Web entdeckt haben?«
Wolfe gab ein kurzes, ungläubiges Lachen von sich, ohne sich auch nur für einen Moment vom Bildschirm zu lösen. »Ist gar nicht so schwer«, sagte er. »Das heißt, kommt drauf an. Je nachdem, wer sie betreibt.«
»Ich kann
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