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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sagte:
Das ist sie.
»Tommy«, flüsterte er und sofort hinterher: »Jennifer?« Die Frage hing in der abgestandenen Kellerluft.
    Sie blieb sitzen. Nackt, einen Arm um das Stofftier gelegt, den anderen zitternd auf Adrian gerichtet, der zögerlich vortrat. Aus seinem verdrehten und wahrscheinlich gebrochenen Fuß schoss ihm ein glühender Schmerz durch den Körper, doch seinem Versprechen getreu achtete er nicht darauf.
    Jennifer
wusste,
dass sie etwas sagen musste, doch ihr fielen nicht die richtigen Worte ein. Sie wusste, dass sich etwas geändert hatte, doch sie begriff nicht, was. Etwas war vollkommen neu und passte nicht im Geringsten zu allem, was ihr angetan worden war, und sie versuchte mit aller Macht herauszubekommen, was es war. Es wirkte unwirklich wie ein Traum, so wie die Geräusche der spielenden Kinder oder des schreienden Babys, und so sagte sie sich, dass sie ihren Augen nicht trauen durfte. Es
musste
eine Halluzination sein. Hier war
nichts, aber auch gar nichts
wahr.
    Sie sah sein graues Haar. Das passte nicht. Sie sah ein altes, faltiges Gesicht. Das ist nicht der Mann. Das ist nicht die Frau. Die Tatsache, dass die Person, die langsam in den Raum eindrang, jemand anders war, versetzte sie nur umso mehr in Panik. Sie kämpfte gegen tausend verschiedene Empfindungen an, die alle mehr oder weniger auf Angst hinausliefen.
    »Jennifer«, sagte der Mann vor ihr bedächtig. Doch diesmal war es eine Feststellung und keine Frage.
    Sie hatte eine trockene Kehle. Die Waffe in ihrer Hand besaß plötzlich ein Zentnergewicht. Eine Stimme in ihr schrie:
Er ist einer von denen! Erschieß ihn! Töte ihn, bevor er dich töten kann!
Der Lauf des Revolvers schwankte, während sie ihre inneren Kämpfe ausfocht, bedenklich hin und her. Der Gedanke, jemand könnte gekommen sein, um ihr zu helfen, schien absurd, und ihn zuzulassen, viel zu gefährlich.
Da war es viel sicherer zu schießen.
    Adrian sah die Waffe, sah, wie das junge Mädchen die Augen aufriss, und wusste, dass sie sich in einem Schockzustand befand. Er dachte an all die Jahre, in denen er im akademischen Elfenbeinturm das Phänomen der Angst studiert hatte. Nichts davon war so aufgeladen gewesen wie dieser Moment in der kleinen Zelle gegenüber dem nackten Mädchen mit dem verstörten Blick, von dem er vermutet hatte, dass es ihm mit verbundenen Augen gegenüberstehen würde, und das ihn jetzt mit einem großen Revolver ins Visier nahm. All seine über Jahrzehnte zusammengetragenen klinischen Erkenntnisse wurden in einem einzigen Moment zunichte. Allein die Realität vor seinen Augen zählte. In diesem Moment begriff er, dass er für sie nicht weniger beängstigend sein musste als alles andere, was ihr zugefügt worden war.
    Er wusste, dass sie wie eine in die Enge getriebene Versuchsratte, die gelernt hat, zu ihrem Schutz ein Klingelzeichen auszulösen, abdrücken würde. Der gesunde Menschenverstand riet ihm, sich wegzuducken.
»Nein, Dad, geh weiter. Genau wie ich es getan habe«,
flüsterte Tommy ihm zu.
»Es gibt kein Zurück.«
    Während ihm der Gedanke kam, dass er vielleicht eben dabei war, seinen eigenen Tod auf Film festzuhalten, ging Adrian weiter in die Zelle hinein. Seine ganze Berufserfahrung verlangte unmissverständlich von ihm, die
richtigen
Worte zu finden, um ihnen beiden das Leben zu retten. Er fühlte sich so nackt wie das Mädchen vor ihm. »Hallo, Jennifer«, sagte er sehr langsam und so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. »Ist das Mister Braunbär?«
    Jennifers Finger spannten sich um den Abzug, und sie holte tief Luft. Dann senkte sie den Blick und betrachtete das Stofftier. Tränen traten ihr in die Augen und brannten ihr auf den Wangen.
    »Ja«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Kommen Sie, um ihn nach Hause zu holen?«

45
    In der großen modernen Wohnung mit Blick über den Gorki-Park in Moskau lagen die grazile junge Frau und ihr Lebensgefährte mit der muskelgeschwellten Brust allein auf einem übergroßen Bett. Draußen glitzerten die Lichter der Metropole in der nächtlichen Dunkelheit, doch in der Wohnung schimmerte einzig und allein ein Flachbildfernseher an der Wand. Beide waren nackt und starrten zu den wechselnden Innenansichten der selbstgebauten Zelle und des jungen Mädchens hoch, auf die sie für die gesamte Dauer von Serie Nummer 4 abonniert waren, sowie auf die unerwartete Ankunft eines alten Mannes.
    Das Paar lag auf Seidenlaken, die nicht vom Sex zerwühlt waren; vielmehr hatte sich die junge

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