Der Professor
verlangt.
Also gut, Jennifer,
sagte sie.
Konzentrier dich auf eine Sache. Eine einzige Sache. Nimm dir was Konkretes vor, dann hast du einen guten Ansatzpunkt.
Sie hatte auf einmal schrecklichen Durst. Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren spröde und gerissen, und Jennifer schmeckte noch mehr Blut. Sie drückte sich mit der Zunge an die Zähne. Es war keiner locker. Sie kräuselte die Nase. Keine Schmerzen.
Na also, jetzt weißt du etwas Nützliches: keine gebrochene Nase. Keine ausgeschlagenen Zähne. Das ist gut.
Sie merkte, dass sie am Bauch etwas juckte. Außerdem fühlte sich an ihrem Arm etwas merkwürdig an, was sie nicht einordnen konnte. Das verwirrte sie noch mehr.
Sie wusste, dass sie zwei verschiedene Bestandsaufnahmen machen musste: eine zu ihrer Person und eine davon, wo sie war. Sie
musste sich trotz der Dunkelheit irgendwie orientieren und soweit es ging Klarheit verschaffen. Wo war sie? Was passierte
hier mit ihr?
Doch sie fand keine Antworten. Die Schwärze, die sie in der Kapuze einhüllte, schien sie auch innerlich zu überwältigen, als ob diese Kapuze ihr nicht nur die Sicht nach draußen versperrte, sondern auch nach
drinnen;
alles schien in einer einzigen schrecklichen Angst vor dem Nichts unterzugehen. Und als sie die Verzweiflung erfasste, dämmerte ihr ein wahrhaft entsetzlicher Gedanke:
Jennifer, du bist noch am Leben. Was auch immer da gerade mit dir geschieht – es wird anders sein als alles, was du je gekannt hast oder dir auch nur vorstellen kannst. Es wird nicht schnell gehen. Es wird nicht leicht sein. Das hier ist nur der Anfang.
Sie merkte, wie sie in einer Spirale, in einem Strudel abwärtstaumelte. Ein Loch in der Leere des Universums. Ihre Beine bebten, und sie war machtlos dagegen, dass das Schluchzen wiederkam. Sie gab der Angst nach, und ihr ganzer Körper schüttelte sich in qualvollen Krämpfen, bis sie ein gedämpftes Geräusch hörte, als öffnete sich eine Tür. Außer ihr war noch jemand im Raum.
Bis jetzt hatte sie geglaubt, das Alleinsein mache ihr diese entsetzliche Angst. Doch in Wahrheit, begriff sie in diesem Moment, war es bedeutend besser, allein zu sein, als zu spüren, dass sie es nicht war. Ihr Rücken krümmte sich, ihre Muskeln zogen sich zusammen; hätte sie sich so sehen können, hätte sie geglaubt, es hätte sie ein Stromschlag getroffen.
Ich bin mit einem Mal ein alter Mann,
dachte Adrian, als er in den Spiegel über der Kommode seiner Frau sah. Es war ein kleiner, holzgerahmter Spiegel, in den sie im Lauf der letzten Jahre höchstens einen prüfenden Blick geworfen hatte, bevor sie an einem Samstagabend das Haus verließ. Frauen legten Wert auf diesen letzten Augenschein, um sicherzustellen, dass alles zusammenpasste und sich harmonisch ergänzte, bevor sie sich auf den Weg machten. Er hatte sich nie allzu sehr darum gekümmert, wie er auf seine Umgebung wirkte, sondern durchaus passend zu seinem akademischen Leben einen eher legeren Stil gepflegt – zerknittertes Hemd, Schlabberhose, leicht schief sitzende Krawatte.
Ich habe immer wie die Karikatur eines Professors ausgesehen, weil ich ein Professor war. Ich war ein Mann der Wissenschaft.
Er hob die Hand und strich sich zuerst über das strähnige grauweiße Haar, dann über die graumelierten Stoppeln an seinem Kinn. Er zog die Falten zwischen Mund und Nase mit Zeigefinger und Daumen nach. Das Alter hatte ihn gezeichnet, dachte er; das Alter und all die Erfahrungen, die ihm das Leben bereitet hatte.
Hinter sich hörte er wieder eine vertraute Stimme. »Du weißt, was du gesehen hast.«
Er sah in den Spiegel. »Hallo, Possum«, sagte Adrian lächelnd. »Das hast du schon einmal gesagt. Erst vor wenigen Minuten.« Er überlegte. Vielleicht war es auch eine Stunde her. Oder zwei. Wie lange hatte er inmitten der Bilder und der Erinnerungen mit einer Waffe in der Hand im Schlafzimmer gestanden?
Er hatte seine Frau mit dem Spitznamen angeredet, der den engsten Familienmitgliedern vorbehalten war. Der Name war an ihr hängengeblieben, als sie neun Jahre alt gewesen und ein Trupp der Nager im Ferienhaus ihrer Familie in den Dachboden gezogen war. Sie hatte ihren Geschwistern und Eltern klargemacht, dass sie bei dem leisesten Versuch, die ungebetenen Hausbesetzer zu vertreiben, mit allen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen hätten, die einem wild entschlossenen Kind zu Gebote standen, von Tränenströmen bis zu heftigen Wutanfällen.
Also hatte sich ihre Familie diesen
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