Der Prometheus-Verrat
Weitsicht.
Nach Auskunft eines Zeitungsberichtes über das Massaker von Lille befand sich Lanchester zurzeit in Brüssel, wo er dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte in Europa, kurz: SHAPE, seinen Besuch abstattete und mit dem Generalsekretär der NATO zu Beratungen zusammentraf.
Ausgerechnet dort, unter dem Dach der NATO-Hauptverwaltung, mit Lanchester Kontakt aufzunehmen würde nicht leicht sein.
Aber vielleicht würde sich die eine oder andere Möglichkeit eröffnen.
Bryson hatte kaum geschlafen – der unablässige Verkehr und die Grölerei nächtlicher Zecher waren allzu laut gewesen –, als er kurz nach fünf aufstand, sich mit kaltem Wasser wusch und einen Plan zurechtlegte.
Unten in der Straße entdeckte er einen rund um die Uhr geöffneten Zeitungskiosk, wo er eine umfassende Auswahl an internationalen, vor allem europäischen Zeitungen und Illustrierten erstand. Wie erwartet, berichteten fast alle – vom International Herald-Tribune über die Londoner Times , Le Monde und Le Figaro bis hin zur Welt – in großer Ausführlichkeit über den Terroranschlag von Lille. Viele zitierten Richard Lanchester in wörtlicher Rede; einige brachten sogar ein längeres Interview mit dem amerikanischen Sicherheitsberater. In einem Café, wo er sich einen starken Kaffee nach dem anderen bestellte, las er die einzelnen Artikel durch und machte sich Notizen dazu.
Manche Zeitungen erwähnten nicht nur Lanchester, sondern auch seinen Sprecher Howard Lewin, der gleichzeitig Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates war. Lewin befand sich ebenfalls in Brüssel; er begleitete seinen Boss und die Delegation des Weißen Hauses, die das NATO-Hauptquartier besuchten.
Pressesprecher wie Howard Lewin hatten die Aufgabe, hartnäckige Journalisten mit aktuellen Informationen zu füttern. In sein Pensionszimmer zurückgekehrt, ließ sich Bryson telefonisch mit Lewin verbinden.
»Mr. Lewin, wir kennen uns noch nicht«, meldete sich Bryson in markigem Tonfall. »Ich bin Jim Goddard von der Europaredaktion der Washington Post . Tut mir Leid, dass ich Sie so früh am Morgen stören muss, aber wir haben hier eine heiße Sache an der Hand, und es wäre wichtig, dass Sie uns helfen.«
Lewin war sofort ganz Ohr. »Selbstverständlich,… eh, Jim? Was steht an?«
»Ich möchte Sie vorab darüber informieren, dass wir eine ausführliche Titelgeschichte über Richard Lanchester bringen werden. Mit allem Drum und Dran. Manches davon wird Ihnen und Ihren Leuten, wie ich fürchte, nicht besonders gut schmecken. Um offen zu sein, es könnte sein, dass sich die politische Laufbahn von Mr. Lanchester dem Ende zuneigt. Was wir da in drei Monaten an Informationen zusammengetragen haben, ist wirklich starker Tobak.«
»Was soll das? Ich verstehe wohl nicht ganz richtig.«
»Nun, Mr. Lewin, es ist so: Mir wird von vorgesetzter Stelle aus Druck gemacht, mit der verflixten Sache endlich rauszukommen und vor ihrer Veröffentlichung nur ja kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren. Ich habe allerdings meine Bedenken, weil die Angelegenheit nicht nur für Lanchester, sondern auch für die Sicherheit unseres Landes gefährlich werden könnte…« Bryson legte eine kurze Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. Dann warf er den Rettungsring, den Lewin jetzt einfach ergreifen musste. »Deshalb möchte ich Ihrem Boss wenigstens die Gelegenheit geben, Stellung zu nehmen. Vielleicht können wir das Ganze ja noch für ein paar Tage aufschieben. Wie auch immer, ich persönlich bewundere Mr. Lanchester, werde aber meine journalistischen Pflichten darüber nicht vergessen. Wenn ich ihn allerdings sprechen könnte, ließe sich vielleicht noch etwas machen …«
»Ist Ihnen eigentlich bewusst, welche Uhrzeit wir hier in Brüssel haben?«, stammelte Lewin. »Mir auf die letzte Minute mit einer solchen Geschichte zu kommen … das ist doch … das ist doch unerhört und ganz und gar unverantwortlich von Seiten der Post… «
»Hören Sie, Mr. Lewin, ich will Sie wirklich nicht unter Druck setzen, aber eines muss klar sein: Ich habe Ihnen Gelegenheit gegeben, das Feuer auszutreten. Was jetzt folgt, geht auf Ihre Kappe … nein, Augenblick«, rief er einem imaginären Kollegen zu, »nein, nicht dieses Foto, das Porträt, du Esel!« Dann sprach er wieder ins Telefon: »Sagen Sie Ihrem Boss, dass er mich über meine Handy-Nummer anrufen soll. Ich warte noch zehn Minuten, danach geht die Sache in Druck, zusammen mit dem Hinweis: ›Lanchester
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