Der Prometheus-Verrat
talentiert und liebenswert, wie sie war, hatte ein solches Los wahrhaftig nicht verdient. Cassidy war ständig dienstlich unterwegs und wurde von allen Seiten beschwatzt, umgarnt und gedrängt, sich so oder so zu entscheiden. Und Claire blieb allein und empfand einen Schmerz, der nicht bloß körperliche Ursachen hatte. Er wusste längst nicht mehr, welche Art von Verletzung bei ihr letztlich am schlimmsten nachwirkte, der Unfall oder die Isolation. Inzwischen vermutete er, dass die Spirale aus Depression und Abhängigkeit, in die sie geraten war,
durch den Krankenhausaufenthalt nur beschleunigt worden war.
In ihrer Verzweiflung darüber, dass ihr das Medikament verweig ert wurde, hatte sie in einem kleinen Park nahe der 8th und H-Street in Washington eine Prise Heroin zu kaufen versucht. Der Dealer war s ympathisch und machte es ihr leicht. Er gab ihr zwei kleine Tütchen von dem weißen Stoff. Sie bezahlte mit frischen Banknoten, die sie kurz vorher aus dem Automaten gezogen hatte.
Doch dann zückte der vermeintliche Dealer seine Dienstmarke und führte sie zur Polizeiwache ab. Als der Captain des Reviers in Erfahrung brachte, wen er da vor sich hatte, rief er den stellvertretenden Staatsanwalt Henry Kaminer zu Hause an, worauf sich Henry Kaminer umgehend mit seinem ehemaligen Kommilitonen Jim Cassidy in Verbindung setzte, der zu dieser Zeit ausgerechnet dem Rechtsausschuss des Senats vorstand. Auf diesem We g hatte er von dem Problem seiner Frau erfahren. Cassidy erinnerte sich noch genau an den Anruf, an Henrys unbeholfene Floskeln, sein Zögern, ehe er mit der Sprache herausrückte. Es war wohl einer der schlimmsten Momente gewesen, die Cassidy je erlebt hatte.
Er sah Claires zartes, erschöpftes Gesicht vor sich und dachte an die Zeile eines Gedichtes, in der es hieß: sie winkt nicht, sie ertrinkt . Wie konnte er nur so blind gewesen sein, dass ihm nicht aufgefallen war, was in seiner nächsten Nähe vor sich ging. War es möglich, dass einen das öffentliche Leben von dem privaten derart entfremdete? Und doch war es so: Claire, sie winkt nicht, sie ertrinkt .
Cassidy wandte sich seinen Mitarbeitern zu. »Sie war keine Fixerin«, sagte er leise. »Sie brauchte Hilfe, verdammt noch mal, eine Behandlung, die sie dann auch bekommen hat. Sechs Monate Reha. In aller Abgeschiedenheit. Sie wollte nicht bemitleidet werden und schon gar nicht, dass man sich das Maul über sie, die Frau des Senators, zerreißt.«
»Aber deine Karriere … «, hob Greene an.
»Ach, diese verfluchte Karriere hat Claire doch erst dahin gebracht! Sie hatte schließlich auch Träume. Zum Beispiel
den Traum von einer richtigen Familie, mit Kindern und einem fürsorglichen Mann, für den Frau und Kinder an erster Stelle und mit Abstand vor allen anderen Dingen rangieren, so wie es sich für einen Ehemann und Vater gehört. Der Traum von einem ganz normalen Leben; das wäre ja doch nicht zu viel verlangt gewesen. Sie wollte ein Zuhause, nicht mehr, nicht weniger. Aber sie hat von ihren Träumen Abschied genommen, damit ich in der Rolle des – wie nannte mich das Wall Street Journal noch mal? – ›Polonius vom Potomac‹ glänzen konnte.« Seine Stimme klang bitter.
»Aber wie konnte sie nur alles, wofür du dich einsetzt, wofür ihr beide euch einsetzt, auf diese Weise torpedieren?«, fragte Mandy Greene, die ihren Ärger nicht verhehlen konnte.
Cassidy schüttelte den Kopf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr sich Claire davor gefürchtet hat, dass man ihr einmal genau dies vorwerfen könnte, nämlich der Karriere des eigenen Mannes geschadet zu haben. Sie hat Höllenqualen deshalb erlitten. Und erduldet. Wir waren schon über den Berg. Und nun das…« Er warf einen Blick auf die Telefonanlage, an deren Kontrollleuchten zu erkennen war, dass alle zwölf Leitungen besetzt waren. »Wie ist es möglich, Roger? Wie konnte die Geschichte auffliegen?«
»Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete Roger. »Aber was da an Informationen draußen ist, ist un glaublich detailliert. Obwohl offiziell gelöscht, kam sogar die elektronische Kopie der Polizeiakte wieder zum Vorschein. Dann die Auskunft darüber, wie viel Geld deine Frau am bewussten Abend von ihrem Konto abgehoben hat. Unterlagen über geführte Telefonate, die zum Beispiel daran erinnern, dass es am Abend der Festnahme etliche Anrufe zwischen eurem Haus und Kaminers Privatanschluss gab, so auch zwischen Kaminer und dem Captain des Polizeireviers oder zwischen dem
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