Der Prometheus-Verrat
Punktreihen waren im Abstand von etwa anderthalb Metern zueinander angeordnet, und es schien auf den ersten Blick, als gehörten sie zum Dekor der Velourstapete. Bryson stand im Eingang der Halle und rührte sich nicht vom Fleck. Vom Boden hatten die Punktreihen einen Abstand von knapp 50 Zentimetern, und sie endeten in einer Höhe von rund zwei Metern. Er ahnte, was es damit auf sich hatte, und um sicher zu gehen, setzte er das Monokular vors Auge.
Jetzt konnte er die vielen dünnen Lichtspuren erkennen, die sich über- und hintereinander quer durch den Raum zogen. Was wie harmlose grüne Fäden aussah, waren, wie er wusste, Laserstrahlen im Infrarotspektrum, die, für das Auge unsichtbar, von einer Lichtquelle ausgesandt wurden und in der gegenüberliegenden Wand auf eine Fotozelle trafen. Falls ein Unbefugter in diese Lichtschranke geriet, würde Alarm ausgelöst werden. Dass dieses Sicherungssystem einen halben Meter über dem Boden aussparte, lag wohl, wie sich Bryson erklärte, an den frei herumlaufenden Haustieren.
Es gab nur eine Möglichkeit, den Raum zu durchqueren: Er setzte die Kopfhalterung auf, befestigte das Monokular daran, legte sich flach auf den Rücken und rutschte, indem er sich mit den Füßen immer wieder abdrückte, mit dem Kopf voran über den Boden. Dabei achtete er sehr genau und konzentriert darauf, nicht in die Nähe der Laserstrahlen zu geraten. Zum Glück erleichterte der glatte Nomex-Overall das Rutschen, weil er dem Parkettbelag nur wenig Widerstand bot. Die Videoüberwachung war zwar außer Kraft gesetzt, doch alle anderen Alarmanlagen funktionierten noch. Und überhaupt ging die größte Gefahr nicht von irgendwelchen Alarmsystemen aus, sondern von den Sicherheitskräften. Was schon zweimal passiert war, konnte sich jederzeit wiederholen – dass nämlich plötzlich ein Wachposten um die Ecke gebogen kam.
Bryson glitt unter dem vierten, dann dem fünften Laserstrahl hinweg. Und schließlich hatte er auch den letzten hinter sich gelassen, ohne Alarm ausgelöst zu haben. Immer
noch auf dem Rücken liegend, legte er eine kleine Verschnaufpause ein und sah sich nach allen Seiten hin um. Als er sich davon überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe war, stand er vorsichtig vom Boden auf. Bis zur Überwachungszentrale war es nicht mehr weit. Elena würde ihm den Weg weisen können.
Er drückte die Sprechtaste. »Ich hab’s bis ans Ende der Galerie geschafft«, flüsterte er. »Wie geht’s weiter?«
Keine Antwort. Er wiederholte die Frage und hob dabei ein wenig die Stimme.
Immer noch keine Antwort. Nur statisches Knacken.
»Elena, sag doch was.«
Nichts.
»Elena, melde dich. Du musst mich führen.«
Stille.
»Verdammt noch mal, so melde dich doch!«
Himmel! War die Funkverbindung gestört? Er versuchte es ein ums andere Mal – vergeblich. Oder war hier irgendwo eine Störquelle installiert, die den Empfang oder das Senden von Funksignalen durchkreuzte? Aber die Hausangestellten verständigten sich schließlich auch über Funk. Es war kaum möglich, alle möglichen Radiofrequenzen zu stören bis auf die eine, die man selbst nutzte.
Warum also antwortete sie nicht?
Er versuchte es noch einmal und noch einmal. Die Antwort blieb aus.
Elena meldete sich nicht.
Was war da passiert? Mit einer solchen Situation hatte er nicht gerechnet.
Bryson spürte, wie ihn kalter Schrecken packte.
Aber er durfte jetzt nicht aufgeben und auch keine Zeit damit verlieren, dass er sich Sorgen machte und rätselte, warum der Funkkontakt zu Elena abgebrochen war. Er musste weiter.
Die Küche konnte er auch ohne ihre Anweisungen finden. Der Duft der Horsd’œuvres war schon von weitem zu riechen. Ein Bediensteter in schwarzer Hose und weißem, langärmeligem Hemd ging am anderen Ende des
Flurs durch eine doppelflügelige Schwingtür. Er verschwand mit einem großen, leeren Silbertablett in der Küche. Bryson wich zurück in die Galerie, wohlweislich aber nicht so weit, dass er Alarm auslöste. Bis zur nächsten Lichtschranke blieb ihm noch genügend Spielraum. Schnell zog er seine Kombiweste und den schwarzen Overall aus. Einer wasserdichten Plastikhülle, die in der Weste steckte, entnahm er daraufhin eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, beides akkurat gefaltet. Nachdem er die Kleidung gewechselt hatte, tauschte er auch noch die Stiefel gegen schwarze Halbschuhe mit Gummisohle ein.
Er spähte in den Flur, der zur Küche führte, hörte Gelächter, flapsige Wortwechsel und das Klappern
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