Der Prometheus-Verrat
außergewöhnlicher Schönheit gewesen zu sein, und selbst mit ihren rund 70 Jahren war sie noch kokett. Und sie besaß das Talent früherer Kurtisanen, die einem Mann das Gefühl geben konnten, als sei er mit Abstand die interessanteste Person im Raum und der Einzige, der für sie existierte. »Mein Mann findet Ingres langweilig . Aber er ist auch nicht der Connaisseur, der Sie zu sein scheinen.«
Der Hinweis auf den Gatten war wohl als Angebot zu verstehen, ihn, Bryson, mit Jacques Arnaud bekannt zu machen. Bryson ging aber nicht darauf ein, war es doch sehr viel wichtiger zu vermeiden, dass dessen Bodyguards auf ihn aufmerksam wurden. »Schade, dass Ingres nicht die Möglichkeit hatte, Sie zu porträtieren«, sagte er und wiegte wehmütig den Kopf.
Sie zeigte sich von dieser Vorstellung wenig angetan, konnte aber nicht verhehlen, dass sie sich geschmeichelt fühlte. »Schrecklich! Ingres Modell zu sitzen …«
»Ja, er hat sich immer sehr viel Zeit gelassen, nicht wahr? Die arme Madame Moitessier musste sich zwölf Jahre lang gedulden.«
»Und dann hat er sie auch noch zur Medusa gemacht, mit Fingern wie Tentakeln.«
»Ja, ein ganz außergewöhnliches Porträt.«
»Beängstigend, wie ich finde.«
»Es heißt, dass er möglicherweise eine camera lucida als Hilfsmittel für manche seiner Werke verwendet hat. Demnach hätte er seine Modelle, bevor er sie auf Leinwand bannte, gewissermaßen ausspioniert.«
»Tatsächlich?«
»So sehr ich seine Malerei bewundere, seine Zeichnungen gefallen mir noch um einiges besser«, sagte Bryson. Er
wusste, dass Arnaud einige Zeichnungen von Ingres besaß und in weniger öffentlichen Räumen des Châteaus hängen hatte.
»Ich pflichte Ihnen aus tiefster Überzeugung bei«, antwortete Gisèle Arnaud. »Dabei hat er seine Zeichnungen selbst als minderwertig abqualifiziert.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber immerhin war damit Geld zu verdienen. Und weil er, ziemlich verarmt, in Rom lebte, war er gezwungen, sich mit Zeichnungen für Besucher und Touristen über Wasser zu halten. Aber das kennt man ja von vielen Künstlern – ihre größten Werke sind oft aus der Not heraus entstanden. Und die besten Werke von Ingres sind seine Zeichnungen. Unvergleichlich, wie er mit dem Weißelstift umgeht, wie er Tiefe und Licht ins Bild bringt. Das ist wahre Meisterschaft.«
Madame Arnaud senkte die Stimme und flüsterte vertraulich: »Übrigens, wir haben in unserem Billardzimmer einige seiner Zeichnungen hängen.«
Sein Plan war aufgegangen. Madame Arnaud hatte Bryson und seine Begleiterin dazu eingeladen, auch jene Räume des Schlosses aufzusuchen, die anderen Besuchern verschlossen blieben. Sie hatte angeboten, selbst die Führung zu übernehmen, was Bryson aber dankend ablehnte mit der Bemerkung, dass er sie ihren Gästen nicht ausspannen wolle. Er hatte sich gut vorbereitet und in der Nationalbibliothek Grundrisse kulturhistorisch bedeutender Schlösser aufgetrieben, so auch die des Châteaus de Saint-Meurice. Dass Arnaud größere Veränderungen an diesem Baudenkmal hatte vornehmen lassen, war sehr unwahrscheinlich. Variiert waren aller Voraussicht nach nur die Nutzung und Aufteilung der Räume für private und geschäftliche Zwecke.
Arm in Arm schlenderten Bryson und Layla durch die Flure. Als sie um eine Ecke gebogen waren, hörten sie plötzlich leise, gedämpfte Männerstimmen. Wie angewurzelt blieben sie stehen und lauschten.
Das Gemurmel wurde verständlicher und man konnte hören, dass auf Französisch gesprochen wurde und dass einer der beiden Gesprächspartner einen ausländischen
Akzent hatte, den Bryson sofort als russisch identifizierte. Dieser Mann schien aus der Gegend um Odessa zu kommen.
»… dass wir uns wieder den anderen Gästen zeigen«, sagte der Franzose.
Der Russe erwiderte etwas, das Bryson nicht ganz verstehen konnte, und worauf der Franzose antwortete: »Aber wenn die Aktion in Lille gelaufen ist, wird es einen gewaltigen Aufschrei geben, und wir haben freie Bahn.«
Bryson forderte Layla mit Gesten auf, stehen zu bleiben, schlich auf leisen Sohlen weiter vor und lauschte angestrengt. Die beiden Sprecher rührten sich offenbar nicht von der Stelle. Aus der Brusttasche seines Smokings nahm Bryson nun einen Stab aus glasartigem, aber biegsamem Material, der sich auf eine Länge von 45 Zentimetern auseinander ziehen und als Periskop verwenden ließ. Er bog die Spitze des Stabes um, führte sie an der Wand entlang, bis sie um einen Zentimeter über die
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