Der Protektor von Calderon
blickte ihm in die Augen. »Stell es dir vor. Wie würde sein Gefolge auf ihn reagieren? Wenn er brütend an der Reling stünde und hin und her schritte wie ein hungriger Thanadent, fauchte und Befehle erteilte, die wenig Sinn ergeben?«
Tavi sah sie finster an. Er setzte zu einer Antwort an, hielt inne und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich dabei wäre? Ich würde mir Sorgen machen.«
»Na also«, meinte Isana. »So ein Theater würde vielleicht seine eigene Nervosität mindern, aber für die anderen würde es nicht leichter. Möchtest du so jemand sein?«
Tavi neigte den Kopf erneut und runzelte die Stirn. Er sagte nichts.
»Jeder denkt nach: Wenn es tatsächlich das Klügste wäre, sich in der Kajüte einzuschließen, würdest du es dann tun, obwohl Gaius entschlossen scheint, auf Deck zu bleiben?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Isana nickte. »Denn Gaius ist, mag er auch noch so eine hinterlistige alte Schlange sein, gleichzeitig ein guter Anführer. Er
handelt. Die anderen folgen ihm.« Sie blickte sich um und fügte hinzu: »Sie folgen dir.«
Tavi legte die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«
»Diejenigen, die uns begleiten«, sagte sie. »Sogar manche der Seeleute. Sie erkennen Klugheit, Tüchtigkeit, Selbstvertrauen. Deshalb betrachten sie dich - und deine Einschätzung der Lage - mit größerem Respekt als die eigene oder die der anderen.«
Tavi biss sich auf die Unterlippe und murmelte: »Ich mache ihnen Angst.«
Isana sah keine Notwendigkeit, Tavi das zu bestätigen, was er endlich selbst begriffen hatte. »Wenn Gaius glaubte, seine Leute wären alle am sichersten in der Kajüte, was würde er wohl tun, was meinst du?«
Tavi nickte langsam. »Er würde hineingehen. Ihnen eine Gelegenheit geben zu protestieren. Ihren Stolz zu retten. Ihre Moral stärken. Wenn er das für das Beste hielte.«
Isana griff in die Tasche neben sich und holte eine Hose von Ehren heraus, die eine Menge grob geflickter Risse aufwies, welche allerdings kaum besser waren als die Löcher darunter. »Siehst du. Übung macht den Meister. Was hältst du für das Beste?«
Ihr Sohn schüttelte den Kopf. »Über diese Frage habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht.«
Jetzt kam es. Sie wappnete sich dagegen, dass unvermittelt Panik in ihr aufstieg. Das konnte Tavi im Augenblick am allerwenigsten gebrauchen. »Und?«
»Es ist viel«, sagte er.
»Ja.«
»Es ist groß.«
Isana nickte. »Oh, ja.«
Er flüsterte: »Ich fürchte mich davor.«
Isana schloss die Augen. In der Stimme des Mannes schwang die Angst des Kindes mit, und das zu hören und zu spüren war schmerzlich.
»Die Sache ist die«, sagte er leise, »ich treffe diese Entscheidung
nicht nur für mich allein. Auch wenn ich heute nicht sterbe, nicht in der Hauptstadt und auch nicht in den Kämpfen, die danach folgen werden, oder wenn ich nicht anschließend zum Tode verurteilt werde, dann … dann wird mein Handeln doch das Leben vieler Menschen beeinflussen.«
»Das ist ja in den vergangenen Jahren durchaus schon häufiger vorgekommen«, hielt sie dagegen.
»Diesmal ist es anders. Es steht mehr dahinter.«
»Tatsächlich?«
Tavi blickte sie an und suchte in ihren Augen. Sie leuchteten grün vor dem dunkelbraunen Holz des Schiffes. »Wenn ich es nun nicht hinbekomme?«, sagte er. »Wenn ich damit überfordert bin?«
»Tavi, du hast nie …«
»Es geht nicht um Elementarkräfte«, erwiderte er fest. »Es geht um mich.« Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Glaubst du, ich kann es schaffen? Seinen … Seinen Platz einzunehmen und ihn auszufüllen?«
Isana bekam Herzklopfen. Sie legte die Hose zur Seite. Die Angst wollte ihr befehlen, nein zu sagen. Dass er diesen Wahnsinn, den das Regieren in Alera bedeutete, bestimmt nicht lebend überstehen würde. Dass er alles, was er anfing, verpfuschen würde, dass er unzähligen tausend Menschen Kummer und Leid bereiten würde.
Stattdessen nahm sie seine Hand und hielt sie mit ihren beiden.
»Schon seit deiner Kindheit habe ich wegen dieser Frage Albträume«, sagte Isana leise. »Jedes Mal, wenn du etwas getan hast, das … das die Aufmerksamkeit der Krone auf dich lenkte, versetzte es mir einen Stich. Ich war sicher, wenn du so weitermachst, würden es die Feinde deines Vaters mitbekommen. Dich erkennen. Dich töten. Das war alles, was ich sehen konnte.«
Sie blickte ihm in die Augen. »Nur das, was ich jetzt vor mir habe, konnte ich nicht sehen.« Sie drückte seine Hand fest und setzte eindringlich
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