Der Protektor von Calderon
kleine, doch beharrliche Bürde der Reue zu tragen. Gaius’ Entscheidungen betrafen weitaus mehr Menschen als die ihren. Wie viel Reue musste sich dieser alte Mann auf die Schultern geladen haben? Wie viel düsterer waren die Träume, die ihn heimsuchten? Wie oft hatte er sich während der Jahrzehnte in der heimtückischen Welt der aleranischen Politik nach jemandem gesehnt, an den er sich wenden konnte, mit dem er reden und bei dem er Halt suchen konnte - in dem sicheren Wissen, dass es niemanden gab und niemals jemanden geben würde. Nicht mehr nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes, des letzten Angehörigen eines uralten Geschlechts. Alle blickten auf den Ersten Fürsten und sahen genau das, was er ihnen zeigen wollte: den Herrscher über das Reich, die Macht und den Reichtum.
Erst im letzten Jahr, in dem sie mit Gaius zusammengearbeitet hatte, war ihr bewusst geworden, wie unaussprechlich allein er in Wirklichkeit war.
Für das Leben, das er geführt hatte, brauchte man ungewöhnlich großen Mut, um all die Probleme zu ertragen, die Feinde und die Anforderungen, die an ihn gestellt wurden. Selbst wenn ihre Elementarkräfte ausgereicht hätten, würde Amara nicht um alle Schätze von Alera Erster Fürst sein wollen.
Sie richtete sich auf, blickte ihn offen an und sagte: »Ich stehe dir zu Diensten, Majestät.«
Gaius sah sie kurz eindringlich an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Gräfin«, sagte er, »möglicherweise habe ich solche Treue nicht verdient. Ruf die Windkutsche.«
»Ja, Majestät.« Amara hob einen Arm und gab einer Gruppe von Ritter Aeris der Kronwache, die an einer Mauer warteten, ein Handzeichen. Die Männer schnallten sich die Harnische an, stiegen in die Luft auf und landeten mit der Kutsche des Ersten Fürsten auf dem Platz, begleitet von einer Eskorte aus zwanzig
Ritter Aeris, die im Rot und Blau der Krone gekleidet waren. Gaius wechselte einen Blick mit dem Kommandanten der Ritter, dann stieg er ein. Amara folgte ihm.
Wind brauste auf, die Kutsche stieg auf und entfernte sich von der befestigten Stadt. Amara nahm sich die Zeit und betrachtete die Elinarcus, die sich in anmutigem Bogen über das graugrüne Wasser des langsam dahinfließenden tiefen Tibers spannte. Früher wäre sie niemals in eine Luftkutsche gestiegen, außer es wäre ihr befohlen worden. Warum sollte sie sich fliegen lassen, wenn sie draußen die Freiheit des Fluges selbst genießen konnte?
Gewiss, das war gewesen, ehe der Erste Fürst sie zwei Jahre lang kreuz und quer durch das Reich geschickt hatte. Nachdem sie immer wieder der vollkommenen Erschöpfung nahe gewesen war, hatte Amara beschlossen, dass eine gewisse, dekadent-entspannte Haltung gar nicht so übel war, und es zugelassen, dass nun jemand anders die schwere Arbeit übernahm. Sie hatte nicht die Absicht, sich das zur Gewohnheit zu machen, aber sie arbeitete hart genug; da war eine gelegentliche Pause schon mal erlaubt.
Besonders wenn man bedachte, wie lange sie Bernard nicht mehr gesehen hatte.
Amara seufzte. Bernard, ihr heimlicher Ehemann. Von Kursoren erwartete man, dass sie sich ganz und gar ihren Pflichten widmeten. Kursoren dienten dem Ersten Fürsten und dem Reich, und ihre Aufmerksamkeit sollte ungeteilt, ihre Aufopferung völlig selbstlos sein - wie Legionares im Dienst sollten sie nicht heiraten, obwohl sie häufig Geliebte hatten. Verboten war ihnen eigentlich nur die Ehe. Und genau gegen dieses Verbot hatte sie verstoßen.
Amara hätte es sich niemals gestatten dürfen, sich in den beeindruckenden Grafen von Calderon zu verlieben. Ungeachtet der Tatsache, wie beharrlich und fürsorglich er war, wie stark, wie gut er aussah und wie geduldig und liebevoll er sich um sie kümmerte, wie leidenschaftlich und geschickt und …
Amaras Herz begann zu klopfen, und sie dachte rasch an etwas anderes, ehe sie erröten konnte.
Würde sich ihre Liebe so leicht von schlichter Vernunft überwältigen lassen, so wäre es wohl kaum die wahre Liebe.
»Denkst du an den guten Grafen Calderon, Amara?«, fragte Gaius. Seine Augen glitzerten belustigt.
»Wieso unbedingt an ihn?«, fragte Amara zurück. »Vielleicht habe ich inzwischen ein Dutzend andere Liebhaber.«
Der Mund des Ersten Fürsten zitterte. Dann begann er aus vollem Halse zu lachen. Obwohl sein Bauch noch wackelte, blickte er bald wieder aus dem Fenster. »Nein«, sagte er. »Nein, du nicht.«
Amara nahm sich einen Moment Zeit, um die Fassung wiederzuerlangen. Oft vergaß sie,
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