Der Protektor von Calderon
die Augen zu. »Hauptmann?«, rief sie. »Kitai hat mir gesagt, ich soll nicht hinschauen, wenn du nicht angezogen bist. Wie soll ich aber herausfinden, ob du angezogen bist oder nicht, wenn ich nicht hingucke?«
Tavi warf Kitai einen Blick zu. »Um Himmels willen.«
Sie lachte ihn an. Das tat sie recht häufig, dachte Tavi. Das Lächeln, welches folgte, war umwerfend, und er musste es erwidern, obwohl die Mühen des Tages wieder einmal nicht zum Erfolg geführt hatten.
»Ist schon gut, Enna«, rief Tavi. »Du darfst gucken.«
»Vielen Dank«, sagte Enna, nahm die Hand runter und strahlte Tavi an. Dann runzelte sie enttäuscht die Stirn und seufzte. »Ich habe wohl das Beste verpasst.«
»Zenturio!«, ermahnte Tavi sie.
Sie salutierte schnell. »Der Mann, den niemand von uns gesehen hat und an den sich niemand von uns erinnern wird, ist hier und möchte mit dir sprechen, Hauptmann.«
»Er kennt mich«, hörte man die Stimme eines jungen Mannes,
und Ehren kam hinter Ennas Pferd hervor und tätschelte im Vorbeigehen zärtlich die Flanke des Tieres. Er war klein, nicht ganz fünfeinhalb Fuß, doch mit den Jahren war der dünne Junge, den Tavi an der Akademie kennen gelernt hatte, drahtiger geworden. Der bescheidene Ehren mit seinem rotblonden Haar war immer noch schlank, aber eher wie eine Raubkatze oder ein Duellschwert und nicht wie ein Federkiel. Er trug schlechte Kleidung wie ein Schiffsbrüchiger, die ihm noch nicht einmal passte, und sah deshalb aus wie einer der zehntausend Flüchtlinge im Lager.
Auf ein Nicken von Kitai hin zog sich Enna zurück. Tavi trat auf den jungen Mann zu, und sie packten sich gegenseitig an den Unterarmen. Der Hauptmann der Ersten Aleranischen musterte kritisch die Kleidung seines Freundes. »Ehren. Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich dich wieder losschicken will.«
»Bitte«, sagte Ehren. »Ich bin Spion von Beruf, Tavi. Wenn ich hier nur herumsitze, bin ich dir nicht von Nutzen.« Er wandte sich lächelnd Kitai zu und verneigte sich galant über ihrer Hand. »Natürlich ist es schön, wenn man beim Schlafen beide Augen zumachen kann, aber langsam verweichliche ich.«
»Du bist erst seit drei Tagen zurück«, sagte Kitai.
»Das ist genug«, erwiderte Ehren. Er senkte verschwörerisch die Stimme und deutete mit dem Kopf auf Tavi. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn mir die Vorgesetzten bei der Arbeit über die Schulter schauen.«
Tavi lächelte, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. Ehren hatte sich in dem von den Canim besetzten Gebieten eine Stellung erarbeitet, über ein Jahr hinweg und unter großen Gefahren. Manche Canim-Kommandanten suchten mit großem Aufwand nach Spionen, von denen viele erwischt und niemals wieder gesehen worden waren. Ehren war, wie Tavi verstanden hatte, beinahe erwischt worden, als er die besetzten Gebiete verlassen wollte - an der Stirn trug er eine frische Wunde, die er nicht weiter erklärt hatte.
»Gibt es Nachrichten vom Ersten Fürsten?«, fragte Tavi leise.
Ehren schüttelte den Kopf. »Du hast mir nicht genug Zeit gelassen, um es mit allen Verbindungen zu versuchen.«
»Mir fehlt die Zeit«, entgegnete Tavi. »Wir marschieren morgen ab.«
»Ich weiß«, antwortete Ehren. »Aber es heißt, Gaius sei irgendwo im Süden bei den Legionen. Soweit bekannt ist, werden alle Nachrichten an ihn zu einem Mitglied des Stabs geleitet - sogar Botschaften von Kursoren. Also entweder hat er einen schweren Anfall von Beamtendenken …«
»Oder er führt etwas im Schilde«, sagte Tavi. »Bei den Krähen. Warum gerade jetzt?«
»Selbst wenn nicht«, meinte Ehren, »du hast mir doch erzählt, dass er euch den Marschbefehl erteilt hat. Vielleicht solltest du nicht versuchen, dich über Arnos hinwegzusetzen.«
»Das war, ehe wir von Werftstadt erfuhren«, sagte Tavi. »Oder von Arnos’ so genanntem Schlachtplan. Oder von dem, was er mit der Bevölkerung im Sinn hat. Wir müssen einen anderen Weg finden, Ehren.«
Ehren hob beide Hände. »Deshalb habe ich mich ja zum Reisen umgezogen«, sagte er. »Du möchtest, dass ich mich so nahe wie möglich an Werftstadt heranpirsche?«
Tavi holte tief Luft. »Gewissermaßen.«
Ehren runzelte die Stirn und legte den Kopf schief.
»Geh zu Nasaug«, sagte Tavi.
Ehren brach in schallendes Gelächter aus. Es dauerte nicht lange, denn er beobachtete dabei weiterhin Tavis Miene. »Oh«, sagte er. »Du meinst es ernst.«
»Ja.«
Ehren schüttelte den Kopf. »Dein Vertrauen ist schmeichelhaft, aber selbst
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