Der Puppenfänger (German Edition)
Phantasie der Mitmenschen in der Regel in Bewegung.«
Nachdem Dieter die Küche verlassen hatte, stand Heide ebenfalls auf und ging zum Fenster. Warum, überlegte sie, während sie einen Zeitungsausträger auf der Straße beobachtete, hatte Alexandra Rosenbring sich umgebracht? Schöllen hatte gestanden, Christina vergewaltigt zu haben, nicht Alexandra. Oder hatte Gerald Schöllen die Schwestern verwechselt? Sie beschloss, nach Holte zu fahren, ehe sie sich auf den Weg zu Celias Geburtstagsbrunch machte. Sie würde ihre Hemmungen überwinden und mit Marianne Wanner über die Vergewaltigung und über Alexandras Selbstmord sprechen. Marianne war mit Christina Rosenbring verwandt gewesen und kannte möglicherweise die Zusammenhänge. Anschließend wollte sie noch einmal Beate aufsuchen.
*
Nach dem Frühstück stand Thomas Orthes vor Marianne Wanners Haustür. Er trug trotz des sommerlichen Wetters einen Wintermantel, hatte die Hände tief in den Taschen vergraben, sagte keinen Ton und starrte Volker aus einem erschöpften, kreidebleichen Gesicht, mit blutunterlaufenen, müden Augen an. Volker bat ihn ins Esszimmer. Dort saß Marianne mit Simones Kindern an einem chaotisch wirkenden Frühstückstisch vor leergegessenen Müslischüsseln und wischte Paula gerade mit einer Serviette Himbeermarmelade vom Mund. Als sie aufschaute und Tommy ansah, kam sie zu der Gewissheit, dass alles, was sie befürchtet hatte, nachdem er sie im letzten Jahr um einige von Christinas Briefen gebeten hatte, jetzt eintreffen würde und auch, dass sie gar nichts dagegen unternehmen konnte.
»Setz dich zu mir«, forderte sie ihn auf und bat Volker mit einem schnellen Blick, sich um die Kinder zu kümmern und sie und Tommy allein zu lassen.
Volker ignorierte Paulas Geplapper. Er nahm sie auf den Arm, fasste Ingas Hand und verließ mit beiden Mädchen den Raum.
Tommy guckte mit teilnahmsloser Miene auf seine behandschuhten Hände. »Warum sind die Kinder bei dir? Richard hat mich gestern angerufen und mir gesagt, dass man ihn und Simone freigelassen hat.«
»Paula und Inga schliefen bereits, als die beiden heimkamen. Simone holt sie gleich ab.«
»Ich möchte dir danken für alles, was du für mich getan hast, Tante Marianne.«
»Was ist geschehen, Tommy?«, fragte sie behutsam und sehr leise, obwohl sie sich vor seiner Antwort fürchtete und am liebsten laut geschrien hätte.
»Ich dachte, es würde mir bessergehen, nachdem ich für Gerechtigkeit gesorgt hätte, aber ich habe mich geirrt.« Tommy ließ sich neben sie auf einen Stuhl fallen. »Es verändert nichts.«
»Was ist geschehen?«
Er sah Marianne aus leeren Augen an. Sie würde ihm nicht glauben. Kein Mensch konnte begreifen, was er fühlte. Wie konnten sie wissen, dass seine Nymphe mit ihm sprach, ihr unvergleichbares Lachen lachte oder die Lieder summte, die sie am liebsten gehabt hatte. »Sie ist immer bei mir, Tante Marianne. Sie lässt mich nicht allein. Ich sehe das rot gefärbte Wasser vor mir, in der ihr toter Körper liegt, die Rasierklingen auf der Wannenablage und das dunkelrote Blut, das auf dem weißen Fliesenboden des Badezimmers klebt«, sagte er mit einer Stimme, in der die Trauer und das Leid der vergangenen Jahre mitschwang.
»Oh, Tommy«, flüsterte Marianne, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Er starrte mit eingefrorener Miene bewegungslos nach draußen. Marianne folgte seinem Blick. Volker hatte die Mädchen auf die Schaukelbretter gesetzt. Er hielt Paula mit einer Hand an ihrer Jacke fest, schaukelte sie behutsam und sorgte mit der anderen Hand dafür, dass auch Ingas Schaukel gleichmäßig auf und ab schwang. Die Mädchen wirkten zufrieden und ausgeglichen. Inga sang leise und wippte mit ihren Füßen den Takt dazu. Während Marianne ihnen beim Spielen zusah, hörte sie das gleichmäßige, vertraute Ticken der alten Standuhr, das aus der Diele zu ihr herüberklang. Sie dachte, gleich müsse die Zeit stehenbleiben und ihr Leben zu einem Abschluss kommen, weil sie jetzt auch noch von Thomas verlassen wurde.
Tommy stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf, verbarg das Gesicht in den Händen und murmelte: »Die Schuldigen haben ihre Strafe bekommen. Sie wurden zur Höchststrafe verurteilt. Jetzt sind sie tot. Sie haben gestanden, ich habe das Urteil gesprochen, und ich habe es ausgeführt. In mir müsste wieder alles im Lot sein, aber das ist es nicht.«
»Das will ich nicht hören!«, widersprach Marianne sehr laut. Sie wischte sich mit dem
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