Der Puppenfänger (German Edition)
Handrücken ihre Tränen ab, fasste ihn am Arm, schüttelte ihn und schrie: »Du bildest dir das alles ein. Du bist verwirrt. Seitdem Alexandra uns verlassen hat, bist du oft durcheinander. Denk an deinen Waschzwang. Wärest du an ihrem Todestag zufällig über einen Bürgersteig gegangen und auf eine Fuge zwischen den Pflastersteinen getreten, würdest du jetzt peinlich vermeiden, auf eine dieser Ritzen zu treten. Du würdest dir einbilden, dass eine Katastrophe geschieht, wenn du dich nicht an deine selbst aufgestellte Regel hältst. Du darfst dir nicht immer diese schrecklichen Dinge ausdenken.«
»Ach Tante Marianne, weine nicht«, sagte Tommy müde.
»Du bist nicht schuld an dem, was geschehen ist, Tommy! Begreife das endlich!«
»Ich habe die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, aber es hat nichts verändert«, sagte Tommy resignierend, das Gesicht noch immer in den Händen vergraben.
Marianne erhob sich, ging mit müden Beinen zur Terrassentür, schob den Store zur Seite und blickte zum Kinderhaus hinüber. Paula krabbelte auf allen vieren den Kinderhügel hinauf, und Inga drückte ihre Stirn gegen eine der Butzenscheiben. Volker hatte den Mädchen den Rücken zugewandt und schaute sie besorgt an. An manchen Tagen fühlte sie sich alt, überlegte Marianne. Doch Tommys Geständnis hatte sie eine Greisin werden lassen. Würde sie bald sterben, weil sie das Leben nicht länger ertragen konnte? War ihr Leben zu einem Muss geworden und damit eine zu große Last? Mariannes Magen fühlte sich hohl und leicht an. Ihr war schlecht. Sie wollte den Raum verlassen, wollte all das, was Thomas erzählte, nicht wissen, aber ihre Beine waren auf dem Parkettboden festgewachsen und ebenso starr wie ihre Arme, ihre Lider und ihr Nacken, dem es nicht gelang, den Kopf zu drehen, um ihren Neffen anzuschauen. Sie hasste ihren unbeweglichen Körper, der sie zwang, auf das Kinderhäuschen zu stieren und Simones Kinder zu beobachten, während sie Tommys Stimme lauschte. Sie wollte den Raum verlassen, unter eine Bettdecke kriechen und sich vor den Grausamkeiten des Lebens verstecken. Hinter ihrem Rücken hörte sie, dass Tommy aufgestanden war.
»Ich werde mich der Polizei stellen«, sagte er leichthin, in einem Tonfall, als wolle er ihr mitteilen, er sei müde und werde jetzt schlafen.
Marianne wunderte sich, dass es ihr plötzlich gelang, den steifen Körper zu bewegen. Sie wandte sich ihm zu, blickte ihn an, ohne zu sprechen, nahm ganz still Abschied und sann darüber nach, ob es möglich sei, dass er angenommen habe, er könnte zwei Menschen töten, ohne die Konsequenzen zu tragen. Tommy hätte es besser wissen müssen. Er gehörte zu den Guten dieser Welt, und sie hatte bereits vor Jahren die schmerzhafte Erfahrung machen müssen, dass die Bösen fast immer ungeschoren davonkamen und die Schwachen und Wehrlosen für deren Sünden bezahlen mussten.
»Ich hatte einen erstklassigen Plan, Tante Marianne«, sagte Tommy.
Sie sah ihm nach, als er das Esszimmer verließ, hörte die Haustür ins Schloss fallen und ihn wenig später mit Volker sprechen.
*
Im Nachhinein konnte sich niemand erklären, wie es zu der Panne gekommen war. Dieter kochte vor Wut. Er war sich eigentlich ziemlich sicher, dass Anton geschlampt hatte, verkniff sich jedoch jeden Vorwurf und bat stattdessen die Mitglieder der MK Dankern umgehend ins Besprechungszimmer. Frau Moltke, die ein größeres Gewitter befürchtete und nichts mehr hasste als schlechte Stimmung am Arbeitsplatz, war in die Stadt geeilt und hatte großzügig eingekauft. Jetzt zierten zwei Warmhaltekannen Kaffee und eine Porzellanplatte, die mit dem Lieblingsimbiss der Kollegen bepackt war, den Besprechungstisch. Die verschwenderisch belegten Mett-Brötchen strahlten zwar jeden an, der den Raum betrat, halfen aber nicht auf Anhieb, Dieters Laune zu verbessern.
Als sie vollzählig versammelt waren, forderte Dieter mit einer Miene, die mehr aussagte als jeder Vorwurf: »Bitte, Anton, du hast uns einiges zu berichten.«
Anton nickte mit hochrotem Kopf. Er fuhr einige Male mit der Hand durch seinen Vollbart, klappte eine Mappe auf, sah hinein und räusperte sich, ehe er sprach. »Wir haben einen Vorfall übersehen, der sich am späten Mittwochabend, dem 13. April, etwa einen Kilometer vom Leichenfundort entfernt, zugetragen hat.«
» Wir haben übersehen «, grummelte Friedrichs. » Ich hab nichts übersehen.«
»Bitte, Anton«, mischte Dieter sich ein. »Sprich weiter!«
»Schöllens
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