Der Puppenfänger (German Edition)
Interesse an der Jagd verloren hatten, haben sie Alexandra gefangen, sie eine halbe Nacht und einen langen Tag gequält, sie geschlagen und mehrfach vergewaltigt. Und irgendwann, als sie ihrer unmenschlichen Spiele müde geworden waren, haben sie Alexandra nackt in einen Graben geworfen.«
»Sie erzählen mir alles, was geschehen ist, wenn Sie wieder gesund sind, Frau Wanner«, versuchte Heide erneut, sie zu beruhigen. »Jetzt ruhen Sie sich aus. Möchten Sie noch ein Schlückchen trinken?«
»Erst einen Tag später hat Tommy seine Verlobte aus einem Straßengraben gezogen. Er hat sie in seine Jacke gewickelt und mehrere Kilometer getragen, bis sie endlich zu Hause waren. Puppenfangen , hat Alexandra immerzu gemurmelt. Tante Marianne, sie haben Puppenfangen mit mir gespielt und Musik dabei gehört .«
»Musik?«, fragte Heide fassungslos.
»Ja, Musik! Den Bolero von Ravel. Und dann hat Alexandra im Takt des Boleros mit dem Fuß aufgestampft. TAM Ta Ta Ta Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta Tam Ta Ta Ta Ta Ta Ta Ta Ta Ta … Ich ge hö re in die Müll ton ne ge wor fen! Es gibt nie man den, der mich wie der zu sam men fli cken kann.«
Heide streichelte Marianne Wanners Hand, wollte sie trösten, brachte kein Wort über die Lippen und kämpfte selbst mit den Tränen.
»Ich habe Alexandra in den Arm nehmen wollen, aber sie hat geschrien und um sich geschlagen und ist ins Badezimmer gerannt. Dort hat sie sich eingeschlossen und stundenlang in der Wanne gelegen.«
Sie schloss die Augen. Das Geräusch plätschernden Wassers drang an ihre Ohren. Dieses Geräusch hatte ihr damals verraten, dass die Tochter ihrer Freundin Gabriele wenige Meter entfernt in einer Badewanne lag und versuchte, sich den Schmutz der vergangenen Stunden vom Leib zu schrubben. »Irgendwann hat Tommy die Badezimmertür eingetreten, und dann haben wir sie aus der Wanne geholt. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und neben ihrem Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war«, murmelte sie.
Alexandras ausdrucksloses Gesicht, ihr geschundener Körper, ihre zerkratzten Beine, die verdreckten, bloßen Füße, mit denen sie kilometerweit durch das Unterholz gestolpert war, immer mit der Angst im Nacken, ihre Peiniger könnten sie wieder einfangen, würde Marianne Wanner ein Leben lang vor Augen haben. »Ein halbes Jahr später hat Alexandra sich selbst getötet«, fuhr sie fort. »Tommy hat sie gefunden, aber er kam zu spät.«
Sie schaute Heide an, ohne sie zu sehen, sann dabei über ihre Enkelinnen nach, über Christina und Alexandra und über ihre Freundin Gabriele, die sich nach dem Selbstmord ihrer Tochter auf eine Farm in Neuseeland verkrochen hatte, statt sich um Christina und deren Töchter zu kümmern. Vielleicht wäre Christina all das Leid erspart geblieben, hätte sie nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester ihre Mutter an ihrer Seite gehabt.
»Ich hätte damals verhindern müssen, dass Alexandra sich wäscht, und sie auf der Stelle zur Polizei oder in ein Krankenhaus bringen müssen.«
»Das dürfen Sie sich nicht vorwerfen, Frau Wanner«, erwiderte Heide sanft.
»Man hätte sicherlich Spuren an ihrem Körper gefunden«, sagte Marianne. »Es ist meine Schuld, dass man ihre Schänder nicht zur Rechenschaft ziehen konnte. Spezialisten der Polizei nehmen sich heutzutage unaufgeklärte Straftaten vor und werten die sichergestellten Spuren neu aus. Hätte ich besonnener reagiert, gäbe es wahrscheinlich DNA -Material der Täter, mit dessen Hilfe man den Verbrechern längst einen Prozess gemacht hätte.«
Heide streichelte der Frau die Hand, sprach beruhigend auf sie ein und war dankbar, als sie in der Ferne das Martinshorn eines Krankenwagens hörte.
*
Nachdem Volker Heidmann in Begleitung von Thomas Orthes gegen Mittag auf dem Lingener Polizeirevier erschienen war, hatte Dieter die beiden unverzüglich in das ruhigste Vernehmungszimmer führen lassen. Obwohl es seiner Ansicht nach keine Methode gab, im Vorhinein eine verbindliche Taktik für die Befragung eines Verdächtigen festzulegen, bereiteten er und sein Team sich in der Regel auf jede Vernehmung sorgfältig vor. In diesem Fall allerdings hatten Michel und er sich lediglich die Zeit genommen, die wichtigsten Fragen zu notieren, und bestimmt, dass Dieter mit der Vernehmung beginnen würde.
Falls es ihm nicht gelang, ein gutes Gesprächsklima zu schaffen, sollte Michel ihn ablösen. Schließlich war es ihre Aufgabe, Orthes die Möglichkeit zu geben, seine Taten sachgetreu zu
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