Der Puppenfänger (German Edition)
heute für die Mädchen ein Kinderfest ausgerichtet hat? Nachdem die kleinen Geburtstagsgäste gegangen waren, legte die Stille sich samtweich über den Garten. Der kräftige, süßliche Duft der Kletterrosen strömte durch die geöffneten Fenster ins Haus. Ich stand auf dem Balkon und umfasste behutsam mit beiden Händen eine der dunkelroten Blüten, die bis über die Brüstung reichte.
Da hörte ich Marianne und Richard leise auf der Terrasse miteinander sprechen. Mutter und Sohn, dachte ich. Zwei Menschen, die sich lieben, die innig miteinander verbunden sind, und doch ist jeder für sich vollkommen. Du und ich haben nur im Miteinander, in der Symbiose existieren können. Deshalb bin ich – Christina – nur die Hälfte eines Ganzen. Folglich sind die Eheleute Richard und Christina Wanner nur anderthalb Menschen. Richard wird niemals zufrieden und glücklich mit mir sein.
Bis vor einer guten Stunde haben die Stimmen der Geburtstagsgäste und das Lachen der Kinder meine Trauer übertönt, doch jetzt kriecht sie hervor, schiebt den leichten Mantel der Fröhlichkeit zur Seite, legt sich schwarz und schwer auf meine Brust und raubt mir den Atem. Die Erinnerungen und die Sehnsucht nach Dir brechen so gewaltig und ungestüm über mich herein, dass ich meine, ersticken zu müssen. In solchen Momenten hole ich zu tief und zu schnell Luft, merke, wie ich die Kontrolle über meine Atmung verliere. Ich versuche, ruhiger zu werden. Es ist mir nicht möglich, entspannt und effektiv zu atmen, wenn ich mich aufrege. Ich habe die richtige Atemtechnik tausend Mal oder öfter geübt und weiß, welche Vorgänge in meinem Körper ablaufen. Will ich eine Panikattacke überwinden, muss ich die Luft langsam durch die Nase einziehen und sie ebenso sachte wieder entweichen lassen.
Ich schließe die Augen, schiebe jeden anderen Gedanken zur Seite und konzentriere mich auf das, was eigentlich automatisch ablaufen sollte. Genauso, wie mein Therapeut es mich gelehrt hat.
Irgendwann habe ich mich so weit unter Kontrolle, dass meine Gliedmaßen mir wieder gehorchen. Ich bin zu nichts nutze. Nach meinen Angstzuständen sehe ich aus wie ein Gespenst, kreidebleich und hohlwangig, mit schweißgetränkten Haaren und graublauen Lippen. Dabei ist heute doch ein ganz besonderer Tag – ein ganz besonderer Abend. Richard hat zum vierten Geburtstag unserer Töchter im nobelsten Osnabrücker Hotel eine Suite reserviert. Wir wollen essen gehen, ein wenig durch die Stadt bummeln. Auf gar keinen Fall will ich meinen Mann enttäuschen. Deswegen werde ich jetzt ins Bad gehen, duschen, Make-up auflegen, etwas Hübsches anziehen und für Richard glücklich sein.
Warum lasse ich die Vergangenheit nicht ruhen und sehe in die Zukunft? Jeder in meiner Umgebung behandelt mich einfühlsam und liebevoll. Richard ist verständnisvoll und warmherzig. Er liebt mich und ist bemüht, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Meine Töchter sind gesund, hübsch, intelligent und immer fröhlich. Das, was man sich gemeinhin unter einer früh verwitweten Mutter vorstellt, die ihren einzigen Sohn an eine Schwiegertochter verliert, trifft auf Marianne nicht zu. Sie ist für mich nicht nur ein Mutterersatz, sie ist auch meine beste und einzige Freundin. Wenn ich mich nur genügend anstrenge, gelingt es mir sicherlich bald, den Teufelskreis zu durchbrechen. Ich muss mir noch mehr Mühe geben, ein ganz klein wenig mehr. Kannst Du mir helfen?
In Liebe Deine Christina
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Beate Buttenstett sah gereizt und übermüdet aus, als sie Heide an diesem Nachmittag begrüßte. Wortlos nahm sie ihr das Kuchenpäckchen ab und führte ihren Gast durch einen übermöblierten Wohnraum in einen Wintergarten. Hier zeigte sie auf eine gedeckte Kaffeetafel, bat Heide, in einem der Rattansessel Platz zu nehmen, entschuldigte sich knapp und verschwand durch eine Glastür in einen nebenanliegenden Raum, der wahrscheinlich die Küche beherbergte. Zumindest hörte Heide Geschirr klappern, ehe Beate mit einer voll bestückten Kuchenplatte in den Händen zurückkam.
Es herrschte eine merkwürdig angespannte Stimmung zwischen Beate und ihr, die Heide sich nicht erklären konnte. Während sie Kaffee tranken, Kuchen aßen und über Simone sprachen, entdeckte sie einen mürrischen Zug in Beates Gesicht, der ihr früher nicht aufgefallen war und der ihr ebenso wenig gefiel wie das aufgesetzte Lächeln, das nicht bis in Beates blaugraue Augen reichte.
»Eigentlich hatte ich dich früher erwartet. Du musst
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