Der Puppenfänger (German Edition)
Gummistiefel plötzlich und unerwartet in Schöllens Schritt.
Schöllen krümmte sich vor Schmerzen, japste nach Luft und bemerkte, dass Tränen über seine Wangen liefen. Er atmete gleichmäßig ein und aus, wartete, dass der Schmerz zwischen seinen Beinen nachließ, und wusste mit einem Mal, dass der Drahtzieher dieses Verbrechens zwei hirnlose Sadisten geschickt hatte, um ihn zu quälen. Bei wem, sann er verzweifelt, hatte er noch eine Rechnung zu begleichen, die so hoch war, dass man ihn auf diese entsetzlich demütigende Art malträtieren ließ?
»Steht in dem Schreiben, was ihr fordert?«, fragte er, so laut er konnte, um das TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta … des Boleros zu übertönen, das seine Stimme allmählich auffraß und sich in seinem Hirn festkrallte. »Verhandelt nicht mit meiner Frau. Sie hat keinerlei Befugnisse. Sie darf lediglich …« Während er seine Anweisungen herausschnarrte, nahm der Druck des Gummistiefels auf seinen Oberschenkel stetig zu. Erst als er die Schmerzen nicht länger ertrug, bat er heiser: »Ich will den Boss sprechen. Es wird ihm nicht gefallen, dass ihr mich grundlos drangsaliert.«
»Du liest diesen Brief! Christina hat ihn geschrieben.«
»Ich kenne keine Christina!«
»Lies!«
»Meine liebe Schwester«, las Schöllen so laut er konnte und durchforstete gleichzeitig sein Hirn nach einer Frau dieses Namens. Er hatte viele Weiber gehabt, aber es fiel ihm keine ein, die er Christina genannt hatte.
»Lauter!«, brüllte Schöllens Peiniger und lachte spöttisch auf. »Bist du nicht imstande, einen vollständigen Satz vorzulesen? Man erzählte mir, du habest ein ziemlich anständiges Abitur hingelegt. Oder hast du es dir genauso erschlichen und ergaunert wie die anderen Dinge, die du zu Unrecht besitzt?«
»Nein«, rief Schöllen, so laut er konnte. »Meine liebe Schwester«, wiederholte er, hielt aber sofort inne, überflog die nächsten Zeilen und fügte krächzend hinzu: »Ich bin kein Märchenerzähler! Das müsst ihr mir glauben! Und von einer Christina habe ich genauso wenig gehört wie von den Nichten, diesen Blagen, die sie hier in dem Brief erwähnt.« Der Druck des Stiefels auf Schöllens Oberschenkel wurde stärker und trieb ihm erneut Tränen in die Augen. Erst als er die Schmerzen nicht länger ertrug, fügte er sich und hub wieder an: »Meine liebe Schwester.«
»Lauter!«
»Lasst uns zum Wesentlichen kommen. Was wollt ihr? Weswegen haltet ihr mich hier in dieser Baracke fest? Gebt mir endlich zu trinken.«
»Trinken willst du? Du sollst dich erinnern«, brüllte sein Schinder. »Wenn du dich nicht erinnerst und Buße tust, wirst du verdursten.«
»Woran? Woran soll ich mich erinnern?«
»Es ist nicht der Zweck deines Aufenthaltes, dass ich dich erinnere! Du sollst dich erinnern. Willst du leben?«
Das sind keine Profis, überlegte Schöllen ratlos, als er auf die schmalen handgeschriebenen Zeilen schaute. Amateure hatten ihn entführt! Laien, die ihre Forderungen auf ein Stück Papier krakelten. Niemand war unberechenbarer als ungeübte, ängstliche Berufsanfänger. Diese Regel galt nicht nur in seinem Job. Sie verlor mit Sicherheit im kriminellen Milieu nicht an Gültigkeit. Deshalb würde er ihrem Willen nachkommen und ihnen vorlesen, bis sie den Inhalt des Briefes auswendig kannten und er ihnen zum Halse raushing.
»Meine liebe Schwester«, setzte er erneut an, atmete mehrere Male tief durch, sammelte all seine Kräfte und las die folgenden Sätze so laut und deutlich er konnte. »Du fragst mich nach den Kindern, willst wissen, womit sie sich die Zeit vertreiben und wie es ihnen und mir geht. Du weißt, ohne dass ich im Einzelnen darüber spreche, wie sehr ich mich in meinen finsteren Lebensstunden quälen muss. Aber …« Als er die Schrift nicht mehr lesen konnte und da, wo handgeschriebene Zeichen sein sollten, nur noch flirrende Flöckchen sah, brach er ab und blickte auf. Jetzt sah er die beiden Gestalten ebenso verschwommen und pixelig vor sich wie die Buchstaben auf dem Papier. »Ich habe Durst! Mir ist schlecht! Ich bin sehr müde, und ich sehe kaum noch etwas. Ich werde sterben, wenn ihr mir kein Wasser gebt.«
»Du hast begriffen, und ich gebe dir recht«, stimmte ihm der Stiefelmann zu. »Du wirst sterben, es sei denn, du erinnerst dich und tust Buße. Willst du dich erinnern und Buße tun?«
»Ja!«
»Dann trink«, sagte der Schattenmann, der hinter dem Stiefelmann stand.
Schöllen fühlte mehr, als dass er sie sehen konnte, eine
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