Der Puppenfänger (German Edition)
Glasflasche zwischen seinen gebundenen Händen. Er schraubte den Verschluss mühselig mit den Zähnen auf und trank …, trank …, trank …, bis einer der beiden ihm die Flasche entriss.
»An wen sollst du dich erinnern?«
»An Christina«, stöhnte Schöllen. »Ich soll mich an eine Frau erinnern, die Christina heißt.«
*
Marianne Wanner stieg die Treppe hinauf und betrat nachdenklich Christinas Zimmer. Sie ging zum Schreibtisch, griff nach einer gerahmten Fotografie, auf der zwei Mädchen zu sehen waren, und betrachtete die Aufnahme lange, ehe sie sie zurückstellte. Dann öffnete sie die oberste Schublade des Schreibtisches, griff hinein, ertastete Papier und zog wahllos mehrere gefaltete Briefbögen heraus. Nirgendwo fühlte sie sich ihrer Schwiegertochter so nahe wie in dieser winzigen Dachkammer. Hier hatte Christina stundenlang Bilder betrachtet, die ihre Schwester gemalt hatte, oder sie hatte an dem alten Schreibtisch gesessen und auf Anraten ihres Therapeuten ihren Schmerz in Worte gefasst. Sie hatte kein Tagebuch geführt, wie es zuerst geplant gewesen war, sondern Briefe geschrieben und darin von ihrem Leiden – von ihrer Krankheit – erzählt. Seit Marianne diese Briefe kannte, waren ihr die Gedanken und Gefühle der Schwiegertochter so vertraut wie ihre eigenen. Sie durchlitt Christinas Qualen und meinte oft, die wunde Seele der jungen Frau wäre in ihrem eigenen Körper gefangen.
Wochenlang hatte Marianne sich unter Kontrolle. Sie lebte von Stunde zur Stunde, beschäftigte sich mit alltäglichen Dingen, doch plötzlich, ohne Vorwarnung, überfielen sie Trauer, Wehmut, aber auch Wut und Verzweiflung. An diesen Tagen war ihr, als wäre das Unglück ein Meer aus Traurigkeit, in dem sie ertrank. Am liebsten ließ sie dann die Rollläden hinunter, verschloss die Türen, kroch in ihr Bett oder auf ein Sofa und trauerte mit aller Inbrunst, der sie fähig war.
Mit den Briefen in den Händen stieg sie langsam wieder die Treppe hinab, ging ins Wohnzimmer und setzte sich in ihren Lesesessel. Den zuoberst liegenden Bogen hatte Christina auf den 26. Juli 2006 datiert. An dieses Datum erinnerte Marianne sich sehr gut. Ihre Enkelinnen waren an dem Tag vier Jahre alt geworden.
Meine liebe Schwester,
Du fragst mich nach den Kindern, willst wissen, womit sie sich die Zeit vertreiben und wie es ihnen und mir geht. Du weißt, ohne dass ich im Einzelnen darüber spreche, wie sehr ich mich in meinen finsteren Lebensstunden quälen muss. Aber ich werde Dir von Deinen Nichten erzählen, die sich prächtig entwickeln und mir sehr viel Freude bereiten. Heute, an ihrem vierten Geburtstag, habe ich sie nebeneinander auf unseren uralten samtbezogenen Hocker vor das Klavier gesetzt und sie eine Weile auf den Tasten klimpern lassen. Ich habe ihnen von Dir und ihrer Großmutter erzählt und ihnen gesagt, dass ich sie ab morgen täglich im Klavierspiel unterrichten werde. Eben habe ich sie gebadet, ihre schmalen Körper abfrottiert, ihre Haare geföhnt und zu kleinen hellblonden, fast silberfarbenen Zöpfchen geflochten. Suse lässt diese Prozedur stets ohne Gegenwehr über sich ergehen. Sie schaut mich gelassen und ruhig aus ihren schokoladenbraunen Augen an und vertraut darauf, dass ich behutsam bin und sie nicht zwicke. Bine hingegen schreit und ergreift die Flucht, sobald ich mich ihr mit der Haarbürste in der Hand nähere. Sie rast durch die Wohnung und erwartet, dass ihre Schwester und ich sie einfangen, ordentlich kitzeln und mehrere Male bitte sagen, ehe sie sich ergibt und sich frisieren lässt.
Jetzt liegen die beiden in ihren Bettchen. Ich habe die Bettgestelle dicht aneinandergerückt, damit die Mädchen sich berühren und streicheln können, wenn sie möchten. Oft beobachte ich, dass eine ihre Händchen durch die Holzstreben steckt und die Nähe der Schwester sucht. Morgens, wenn ich in ihr Zimmer komme, stehen sie auf den Matratzen und umarmen sich über das Gitter hinweg, oder sie flüstern in ihrer eigenen Sprache miteinander, deren Geheimcode ich nicht begreife, so sehr ich mich auch bemühe. Wer könnte besser nachempfinden als Du, dass ich darüber sehr traurig bin. Ich fühle mich ebenso ausgeschlossen, wie unsere Mutter damals. Denn auch wir benutzten Wörter und Begriffe, die niemand außer uns verstehen konnte und sollte. Verzweifelt sehne ich mich nach Dir, nach unserer engen Zweisamkeit, nach der Verbundenheit zwischen uns. Ich vermisse sie mit jedem Atemzug. Erzählte ich bereits, dass Marianne
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