Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Puppenfänger (German Edition)

Der Puppenfänger (German Edition)

Titel: Der Puppenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joana Brouwer
Vom Netzwerk:
abgelenkt. Die Mädchen waren sehr temperamentvoll, besonders Bine fiel das Stillsitzen schwer.«
    »Christina hatte ihre Krankheit fast überwunden«, murmelte Marianne Wanner. »Ich weiß es, weil sie es ihrer Schwester Alexandra geschrieben hatte und ich den Brief lesen durfte. Trotzdem hätte ich verhindern müssen, dass sie sich ans Steuer setzt. Ich hätte sie begleiten müssen. Es ist meine Schuld, dass …« Sie verstummte. Ihr nach innen gewandter Blick verriet ihren Besuchern, dass sie rund um sich niemanden mehr wahrnahm.
    Christina hatte den Brief am 23. März 2009 verfasst und Marianne hatte ihn nach dem Tod ihrer Schwiegertochter so oft gelesen, dass sie den Inhalt auswendig kannte.
    Meine liebe Alexandra,
    seit einigen Tagen geht es mir erstaunlich gut. Dr. Hosskamp ist der Ansicht, dass die Medikamente jetzt endlich ihre Wirkung entfalten und ich mich auf dem Weg der Besserung befinde. Ich wünschte, es gelänge mir, ein Leben zu führen, in dem die Einnahme der Tabletten nicht über mein Wohlbefinden entscheidet und darüber, wann ich schlafe oder wache, ob ich traurig bin oder glücklich.
    Marianne kutschiert mich und die Kinder fast jeden Nachmittag ins Schwimmbad. Suse und Bine freuen sich, dass ich mich zwischen sie auf die Rückbank des Autos setze. Sie nennen ihre Omi »Chauffeur Marianne« und haben ihr neulich Richards Schirmmütze aufgesetzt. Selbstverständlich fragen sie mich, warum ich nicht selbst fahre und sie nie, wie die Mütter der anderen Kinder, mit Richards Wagen von der Schule abhole. Ich habe ihnen erklärt, dass ich zwar einen Führerschein besitze, aber seit langer Zeit nicht mehr Auto gefahren bin und es unter dem Einfluss der Medikamente auch nicht darf.
    Du wärest ebenso froh wie ich, könntest Du sie sehen, meine hübschen Wassernixen in ihren knallroten Badeanzügen. Das Wasser ist ihr Element. Dort fühlen sie sich wohl. Sie kennen keine Angst und bewegen sich, als wären sie mit Schwimmflossen geboren. Ich sehe ihnen zu, und ich bin sehr stolz auf meine temperamentvollen kleinen Mädchen, die uns beiden so sehr ähneln. Doch gerade in diesen glücklichen, unbeschwerten Momenten erkenne ich umso deutlicher, wie wenig ich von meinen Kindern weiß und wie viel Zeit ich bereits ohne sie und Richard im Finstern vergeuden musste …
    Nachdem Dieter bemerkt hatte, dass Frau Wanner mit ihren Gedanken in eine Welt abgetaucht war, die für ihn unerreichbar blieb, wandte er sich an Herrn Heidmann und fragte verwundert: »Christina Wanner schrieb Briefe an ihre Schwester Alexandra?«
    Der andere nickte zustimmend. »Sie hat Alexandra regelmäßig geschrieben, ebenso wie andere Menschen Tagebuch führen oder eine Biografie verfassen. Das Briefeschreiben an ihre verstorbene Schwester war ein Teil ihrer Therapie.«
    *
    Gegen 13.00 Uhr stellte Heide ihren Golf im Parkhaus an der Seilerbahn ab, überquerte die Kokenmühlenstraße im Laufschritt und erfuhr sofort, dass das Glück ihr an diesem Tag erneut zur Seite stand. Frau May, die Besitzerin des kleinen Blumengeschäftes, hatte ihren Laden noch nicht geschlossen. Sie räumte knospende Frühlingsblüher und die ersten Sommerblumen zusammen und stellte sie dicht an dicht auf einen Wagen, um sie ins Innere des Gebäudes zu transportieren. Als sie Heide auf sich zukommen sah, unterbrach sie ihre Arbeit und ließ sie vor sich in den Verkaufsraum gehen.
    Heide wollte der Floristin nicht die Mittagspause stehlen, deswegen hielt sie sich nicht mit einem langen Vorgeplänkel auf, sondern kam gleich zur Sache. Sie holte ihren Fotoapparat aus der Handtasche, schaltete ihn ein, suchte auf dem Display die Aufnahmen, die sie von dem Grabschmuck gemacht hatte, und zeigte sie ihr.
    Frau May, die Heides Beruf kannte, wunderte sich nicht. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich dachte mir schon, dass diese Sache einen Haken hat. Der Spruch ist mir gleich so komisch vorgekommen. Einen Satz mit dieser Botschaft lässt man eigentlich nicht auf eine Kondolenzschleife drucken. Das habe ich dem Kunden auch sofort gesagt. Aber er meinte, es wäre so eine Art Leitspruch für die Verstorbene gewesen und auch, dass sie eine längere Zeit als Dolmetscherin in China gearbeitet hätte.«
    »Kennen Sie den Mann, der das Gesteck und die Schleife in Auftrag gegeben hat?«
    »Nein! Er hat telefonisch bestellt, mir jedes Wort pingelig genau buchstabiert und sich den Text zwei Mal wiederholen lassen, damit ich auch ja keinen Fehler einbaue. Als er die Bestellung

Weitere Kostenlose Bücher