Der Puppengräber
dabei und schaute zu, wenn andere das taten, vor allem, wenn es über Frauen herging. Bei seiner Alten hatte er nichts zu melden, da hielt er sich an anderen schadlos. Also hätte der alte Lukka Wilhelm Ahlsen berichtet, dass beim Bendchen noch ein bisschen Arbeit zum Wohle des Führers wartete. Unddamit es sich lohnte, hätte er Werner Ruhpold in allen Einzelheiten geschildert, wie es gewesen war.
Blieb der junge Lukka. Und das glaubten sie beide nicht. So jung war Heinz zwar heute nicht mehr, aber damals war er erst sechzehn gewesen. Da war es unwahrscheinlich, dass er allein kurzen Prozess gemacht haben sollte mit einer erwachsenen Frau. Immerhin war Edith Stern fünfundzwanzig gewesen. Sie hätte sich von so einem Rotzlöffel nichts gefallen lassen. Mutig war Heinz Lukka immer nur gewesen, wenn er als Jungzugführer der Hitlerjugend kleinen Jungs die Hölle heißmachen durfte, weil sie dem Verein nicht beitreten wollten, dies aus Zeitgründen auch gar nicht konnten.
Weißt du noch, wie er uns damals … Dabei war er immer so ein schmächtiges Kerlchen. Aber zu der Zeit kam es mehr auf die große Klappe an.
Und weißt du noch, wie er erwischt wurde, als er Sibylle Faßbender samstags beim Baden beobachtete? Ausgerechnet in der Waschküche der von Burgs. Da verkehrte Sibylle ja noch regelmäßig, obwohl die kleine Christa längst an ihrer Lungenentzündung gestorben war.
Und weißt du noch, wie der alte von Burg ihm anschließend mit dem Gürtel den nackten Hintern … War das nicht auch um die Zeit? Eine knappe Woche bevor wir Edith gefunden haben. Ja, das kommt hin.
Weißt du auch noch, wie der alte Lukka Zeter und Mordio schrie und dem alten von Burg mit der Gestapo drohte? Als ob die damals nichts Besseres zu tun gehabt hätten. Und wie Wilhelm Ahlsen verlangte, dass der alte von Burg sich öffentlich entschuldigte sonntagmorgens nach dem Hochamt. Und wie der alte von Burg dann diese großartige Rede hielt:
Man müsse dem Untergang des Reiches vorbeugen, indem man den Verfall der guten Sitten verhinderte undauf die Moral der deutschen Jungmänner achtete. Dass sie sich von ihrer Bestimmung nicht ablenken ließen durch verdorbene Gedanken. Dass sie ihre Kraft für den Kampf zum Wohle des Führers aufsparten, damit nicht am Ende die Feinde des deutschen Volkes triumphierten und der Sieg denen zuteil wurde, die teuer dafür zahlen mussten und ihn verdient hatten.
Er war nicht auf den Mund gefallen, der alte von Burg. Da musste man schon ganz genau hinhören, um zu begreifen, was er sagte. Wilhelm Ahlsen kochte vor Wut und musste ihm auch noch recht geben.
Diese Abende waren für Jakob fast eine heilige Messe. Die jüngste Tochter im Arm, den Freund gegenüber, Erinnerungen und Befürchtungen. Einmal erwähnte Jakob, dass er auf der einen Seite wirklich dankbar für das kleine Mädchen sei. Und nur am Rande ließ er durchblicken, dass er auch nichts gegen einen zweiten Sohn einzuwenden gehabt hätte.
«Ich kann dir nachfühlen, wie das ist», sagte Paul voller Anteilnahme.
Jakob schaute ihn lange an und schüttelte den Kopf. «Das kannst du nicht. Du weißt heute, für wen du dich abrackerst. Und wenn wir zwanzig Jahre weiter sind, musst du dir keine Sorgen mehr machen. Bei mir fangen die Sorgen dann erst richtig an. Was soll aus Ben werden, wenn wir nicht mehr können?»
Jakob erzählte von Trudes Ängsten, wie sie sich aufrieb für Ben, dass die anderen zwangsläufig zu kurz kamen. Gut, die beiden Großen gingen schon ihrer Wege. Aber das Kleine … Wie in Gedanken versunken meinte Jakob: «Über kurz oder lang wär’s ihr bei uns vielleicht ergangen wie den Puppen.»
«Unsinn», widersprach Paul. «Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er nicht unterscheiden kann zwischeneinem Menschen und einem Spielzeug. Jakob, mach dich nicht verrückt. Er ist ein Schaf. Antonia sagt es jedes Mal, er ist durch und durch gutmütig.»
25. AUGUST 1995
Um halb sieben drückte der Entschluss, mit Trude über die Zeitungen und alles andere zu reden, wie ein Zentnerstein in Jakobs Nacken. Im Hinterkopf hörte er Pauls Stimme noch einmal: «Antonia sagt es jedes Mal.»
Andere sagten es auch häufig. Trude natürlich und Sibylle Faßbender. Hilde Petzhold hatte es früher gesagt. Illa von Burg sagte es heute noch. Hatten Frauen das feinere Gespür für das Wesen eines Menschen? Aber sein Kollege im Baumarkt, der Ben überhaupt nicht kannte, der nur wusste, was Jakob bisher erzählt hatte, war der gleichen
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