Der Puppengräber
Meinung.
Jakob hätte vor Scham im Boden versinken mögen. Dem eigenen Sohn zuzutrauen, was ihm durch den Kopf ging, wo er noch am Sonntag so friedlich mit ihm durchs Feld gelaufen war. Es ließ tief blicken, wenn ein Vater auf solch eine Idee kam, nur weil zwei Fremde die Wahrheit leugneten.
Als Jakob zu seinem Wagen ging, war es sieben Uhr. Er war noch nicht so weit, um heimzufahren, Trude gegenüberzutreten, ihr ins Gesicht zu schauen und zu sagen: «Wir müssen mal reden.» Natürlich mussten sie einmal in Ruhe reden. Aber er brauchte ein wenig Zeit, alles noch einmal zu überdenken.
Er fuhr zu Ruhpolds Schenke, bestellte sich ein Bier und ließ sich von Werner Ruhpolds Vetter Wolfgang das Telefon über den Tresen reichen. Dann rief er Trude anund sagte Bescheid, dass sie nicht mit dem Essen auf ihn warten solle, es könne etwas später werden. Anschließend bestellte er noch ein Bier, und während er es trank, grübelte er über Trudes Reaktion nach.
Sie war nicht erstaunt gewesen, hatte nicht gefragt, was er um diese Zeit in Ruhpolds Schenke zu suchen habe. Wo er seit Jahren nur noch selten und freitags ganz bestimmt nicht dorthin ging, weil dann die Schützenbrüder ihre Versammlungen abhielten. Davon kein Wort. So kleinlaut und geistesabwesend wie die ganze Woche schon hatte sie gesagt: «Ist gut.» Und sonst nichts.
Ruhpolds Schenke war an diesem Abend gut besucht, am Tresen stand einer neben dem anderen. Drei Mitglieder vom Schützenverein waren bereits da, standen aber am anderen Ende der Theke und warteten auf den Rest, um gemeinsam in den Versammlungsraum zu gehen. Jakob kümmerte sich nicht um sie, starrte auf seinen Bierfilz, sah im Geist ein Einweckglas voller Schimmel und Dreck – und einen Fetzen Stoff.
Das war es. Nur das. Er hatte es bisher verleugnet und wusste das nur zu gut. Es waren nicht allein die Zeitungen und Bens Gebaren am Montagmorgen. Es war dieser Fetzen, der ihn beunruhigte. Es war die Eile, mit der er das Einweckglas zugekippt hatte. Nur nicht nachschauen, nur den Dingen nicht auf den Grund gehen und sich den Frieden nicht durcheinanderrütteln lassen.
Im Speisezimmer, das neben dem Schankraum lag, waren sechs Tische besetzt. Die Doppeltür stand weit offen, die Bedienung lief hin und her. Um sich abzulenken, schaute Jakob ihr eine Weile zu, betrachtete die Fleischplatten und Gemüseschüsseln, die sie nach nebenan schleppte. Außer den paar Bissen Frühstücksbrot hatte er den ganzen Tag nichts zu sich genommen. Er war auchnicht hungrig, sein Magen war randvoll mit unbewussten Ängsten und schwerwiegenden Vermutungen.
Ebenso gut wie sein eigenes Verhalten konnte er Trudes Reaktionen beurteilen. Nur zu genau wusste er, dass sie ihm in all den Jahren die Hälfte verschwiegen hatte, mehr als die Hälfte und immer das, was er als Vater unbedingt hätte wissen müssen. Wenn Trude etwas Gravierendes verschwieg, war sie immer so kleinlaut und geistesabwesend wie die ganze Woche schon und vorhin am Telefon.
Dann war er darauf angewiesen, dass Richard Kreßmann, Paul Lässler, Bruno Kleu oder Toni von Burg einen Ton verlauten ließen. Früher war das oft der Fall gewesen. Vorausgesetzt, Ben hatte sich im Dorf, wo es Zeugen gab, danebenbenommen. Dann hatten es meist die Frauen erfahren und ihren Männern berichtet.
Manchmal hatte dann Richard Kreßmann gesagt: «Es geht mich zwar nichts an, Jakob, ich hab ja auch genug zu tun mit meinem dämlichen Hund. Aber Thea hat mir erzählt …»
Oder Bruno Kleu hatte ihm mit vielsagendem Grinsen auf die Schulter getippt und gefragt: «Trägt Trude im Bett eigentlich einen Stahlhelm? Ich meine, sie müsste ja sonst ständig Kopfschmerzen haben, wenn du ihr beim Vorspiel immer auf den Schädel haust. An deiner Stelle würde ich das Schlafzimmer abschließen, Jakob. Man kann’s nämlich auch übertreiben mit der Aufklärung. Ben hat gestern wieder demonstriert, wie es bei euch zugeht. Sieht so aus, als wächst mir da eine echte Konkurrenz heran. Aber wenn er jetzt schon reihenweise Puppen vögelt, da frage ich mich, wie es hier in zwanzig Jahren um den Grips der nachwachsenden Bevölkerung bestellt ist.»
Oder Toni von Burg hatte ihn zur Seite genommen:«Ich gebe dir einen guten Rat, Jakob, und ich hoffe, dass du ihn befolgst. Stopf dem Volk das Maul, bevor es deinem Sohn so ergeht wie meiner Schwester. Hier gibt es noch genug, die von gestern sind.»
Und ganz selten hatte Paul ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: «Pass ein
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