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Der Rabbi schoss am Donnerstag

Der Rabbi schoss am Donnerstag

Titel: Der Rabbi schoss am Donnerstag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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vom Schreibtisch und ging auf und ab. Als er dann fortfuhr, geschah es im Ton eines Lehrers vor seiner Klasse. «Es ist aus zwei Gründen so furchtbar wichtig. Der eine ist, dass wir die Dinge richtig stellen müssen. Und der zweite und wohl noch wichtigere, ihnen zu zeigen, dass wir uns nicht herumschubsen lassen. Dann überlegen sie zweimal, bevor sie sich mit einem auf einen Kampf einlassen. Und dieser Maltzman, David, der mag Sie nicht.»
    «Woher wissen Sie das?»
    «So etwas sehe ich. Ich sehe es, wenn er mit Ihnen spricht. Ihre Vibrationen harmonieren nicht.»
    «Vibrationen?»
    «Vibrationen. Sie wissen doch, dass jeder Mensch Vibrationen abgibt wie … wie eine Stimmgabel. Und wenn zwei Menschen zusammenkommen, deren Vibrationen nicht harmonieren, gibt es einen Missklang.»
    «Ach so. Und meine Vibrationen passen nicht zu seinen?»
    «Ehrlich gesagt, David, Ihre Vibrationen harmonieren mit denen der meisten anderen Menschen nicht. Sie sind nicht jedermanns Geschmack. Es ist nicht leicht, Sie zu mögen. Ich kann es, aufgrund meiner Ausbildung.»
    «Wirklich? Was für eine Ausbildung ist das denn?»
    Brooks sah ihn verwundert an. «Meine Ausbildung am Theater, natürlich. Ein Schauspieler schlüpft immer in die Persönlichkeit der Rolle, die er spielt. Stimmt’s? Dabei trainiert er sein Verständnis für die Menschen. Und vergessen Sie nicht, David, verstehen heißt vergeben, ja sogar mögen.»
    «Ich werd’s mir merken.»
    Sein Sarkasmus war an Brooks verschwendet. «Na schön. Setzen wir also voraus, dieser Maltzman will Sie loswerden. Und Wollen ist für einen Mann wie Maltzman gleichbedeutend mit Handeln. Na und?, werden Sie sagen. So was kommt vor. Aber diesmal, David, ist es anders.» Er blieb vor dem Schreibtisch stehen und blickte mitleidig auf den Rabbi hinab. «Wissen Sie, was schuld daran ist, dass Sie nach all den Jahren noch hier sind, David? Ich werde es Ihnen sagen. Trägheit. Einfach ganz schlichte Trägheit. Die Vorsitzenden und ihre guten Freunde im Vorstand wären Sie gelegentlich ganz gern losgeworden, aber die Gemeinde hat nicht mitgemacht. Und warum? Trägheit. Es war ihnen zu mühsam. Es hätte Diskussionen bedeutet und Kampf und Parteinahme. Jetzt aber ist die Lage anders. Ich habe gehört, dass Frauen sagten, die einzige Möglichkeit, Gleichberechtigung beim Gottesdienst zu erreichen, bestehe darin, einen anderen Rabbi zu nehmen. Sie sehen also, jetzt ist es die Gemeinde, oder vielmehr die Frauen in der Gemeinde, die Sie loswerden wollen. Deswegen frage ich: Was werden Sie unternehmen?»
    «Ich verschwinde», sagte der Rabbi und stieß seinen Stuhl zurück.
    «Wirklich?» Brooks war entgeistert.
    «Ganz recht. Ich nehme mir den Nachmittag frei. Es ist draußen zu schön, um in der Stube zu hocken.»
    «Ach so! Einen Augenblick dachte ich … Himmel, ich würde ja gern mit Ihnen gehen, aber ich muss noch zwei Bar Mitzwas drillen.»

40
    Es war nicht etwa Ärger über Morton Brooks, was Rabbi Small veranlasste, sein Arbeitszimmer so abrupt zu verlassen. Denn insgeheim hatte er sogar Spaß an dessen Impertinenz, an seiner theatralischen Angeberei. Während Brooks’ kleiner Vortrag über die Gemeindepolitik seine Reaktion zwar ausgelöst haben mochte, war der eigentliche Grund für den plötzlichen Aufbruch, dass er genug hatte – von der Synagoge, von Maltzman, von seiner eigenen Position als Rabbi. Er wollte weg von all dem, sei es auch nur für ein bis zwei Stunden, weg vom Telefon, irgendwohin, wo ihm kein Gemeindemitglied mit Fragen oder Beschwerden kommen konnte.
    Er stieg in seinen Wagen und nahm die Straße nach Boston in der unbestimmten Vorstellung, die Großstadt würde ihm – wenigstens vorübergehend – jene Anonymität gewähren, nach der er sich sehnte. Doch als er auf der Hauptstraße mit ihrem dichten Autoverkehr dahinrollte, überlegte er sich, wenn er in der Stadt sei, müsse er wahrscheinlich ewig nach einem Parkplatz suchen, und wenn er ihn gefunden habe, sei es vermutlich Zeit zur Heimfahrt. Also bog er stattdessen auf die Straße nach Revere ab, einem nahe gelegenen Erholungsort mit einem lang gestreckten Strand, gesäumt von einer ebenso langen Reihe Vergnügungsbuden, von denen die meisten um diese Jahreszeit geschlossen sein würden. Dort konnte er sich auf die Strandmauer setzen oder in den Strandpavillon mit Blick aufs Meer und zusehen, wie die Wellen heranrollten. Wenn ihn dort jemand ansprechen sollte, dann höchstens, um nach der Zeit zu fragen, um

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