Der Rache kaltes Schwert - Crombie, D: Rache kaltes Schwert - And Justice there is None
gesehen, was mit denen passierte, die keinerlei Hilfe und Unterstützung hatten – ausgemergelte Gestalten, die in Hauseingängen bettelten oder sich auf der Straße verkauften. Einmal war sie in der öffentlichen Toilette im Hyde Park auf zwei Prostituierte gestoßen, die sich einen Schuss setzten. Sie war hinausgerannt und hatte sich prompt im Gebüsch übergeben müssen, überwältigt vom schieren Entsetzen über das, was sie erwartete.
Es gab jedoch auch erträglichere Zeiten, und das waren besonders die Tage, an denen sie auf Evan, den sechsjährigen Sohn von Nina und Neil, aufpassen durfte. An einem wunderschönen Maitag hatten sie und Evan das Haus für sich allein. Mittags hatten sie im Park ein Picknick gemacht, und jetzt spielten sie gemütlich mit einem Puzzle, während im Hintergrund die neue Donovan-LP lief, die sie vor ein paar Wochen gekauft hatte.
Sie hatte Evan ein heiteres kleines Liedchen beigebracht über ein Mädchen namens Marianne und wenn das Lied zu Ende war, strahlte der sonst so ernsthafte kleine Junge bis über beide Ohren.
»Das ist dein Name«, krähte er fröhlich und befingerte ihr silbernes Medaillon.
»Und es ist unser Geheimnis. Niemand außer dir darf mich so nennen, weil du nämlich etwas Besonderes bist.« Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie nie wieder irgendjemand bei ihrem wirklichen Namen genannt, und sie fand die Erinnerung an jenes kleine Mädchen, die er in ihr hervorrief, sonderbar tröstlich. Sie klappte das Medaillon auf und hielt es Evan hin, damit er es besser sehen konnte. »Schau mal, ich habe dein Bild da reingetan, damit ich es immer bei mir habe.«
»Wo hast du das her?«, fragte Evan und betastete das silberne Herz.
»Das gehörte meinem Vater.«
»Marianne«, flüsterte Evan und kuschelte sich noch enger an sie. »Das ist ein hübscher Name, aber ich glaube, Angel gefällt mir besser.«
In der warmen Luft des Nachmittags schlief Evan auf ihrem Schoß ein; seine langen Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Angel blickte durch das offene Fenster auf das frische Grün der Baumwipfel und den Turm der Kirche in der Mitte des Platzes. Das Begleitheft der LP lag aufgeschlagen neben ihr. In einem persönlichen Appell ermahnte Donovan seine Fans, auf Drogen zu verzichten – als ob das so etwas Ähnliches wäre wie der Entschluss, sich die Haare schneiden zu lassen oder kein Fleisch mehr zu essen. Wenn es doch nur so einfach wäre.
Was hielt die Zukunft für sie bereit? Karl würde nie einwilligen, mit ihr ein Kind zu haben, da war sie sich sicher. Sie strich Evan die Haare aus der Stirn, spürte den beruhigenden Druck seines warmen, entspannten Körpers auf ihrem eigenen. Würde sie je die Chance bekommen, ihr eigenes Kind im Arm zu halten und zu lieben?
Am Donnerstagmorgen, drei Tage nach dem Mord an Karl Arrowood, rief Kincaid als erstes Doug Cullen zu sich ins Büro. »Sehen Sie doch mal, was Sie über Bryony Poole herausfinden können«, sagte er. »Sie ist Tierärztin und arbeitet in der Praxis von Gavin Farley.«
Cullen zog die Augenbrauen hoch, und seine Brille rutschte ihm in Richtung Nasenspitze, was ihm ein etwas eulenhaftes Aussehen verlieh. »Eine Frau? Halten Sie das ernsthaft für möglich?«
»Sie ist so groß wie ein Mann und auch so stark«, antwortete Kincaid. »Wir können es uns nicht leisten, diese Möglichkeit zu ignorieren. Aber es gibt da ein gewisses Problem bei diesen … hm, diesen Nachforschungen. Bryony und Gemma
sind sich in letzter Zeit etwas näher gekommen – Gemma hat durch Bryonys Vermittlung einen Hund adoptiert – und deshalb denke ich, wir beide sollten das besser allein regeln.«
»Das macht die Sache schwierig«, meinte Cullen voller Mitgefühl.
»Ja.« Kincaid dachte daran, wie ihm Gemma am Abend zuvor im Bett die kalte Schulter gezeigt hatte. War es klug gewesen, sie dazu zu überreden, sich in ihrem eigenen Revier niederzulassen? Das war immer ein Risiko, denn man konnte nie ausschließen, dass sich freundschaftliche Beziehungen entwickelten, wie es jetzt bei Gemma der Fall war; aber er hatte nicht damit gerechnet, dass so bald schon eine derart schwierige Situation entstehen würde. Dieser Fall war ohnehin schon ein Albtraum, auch ohne zusätzliche persönliche Komplikationen.
In der Polizeiinspektion Notting Hill hatte Gemma währenddessen große Schwierigkeiten, dem Papierkram, der sich auf ihrem Schreibtisch angesammelt hatte, die gewohnte Aufmerksamkeit zu widmen. Sie hatte sich die ganze
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