Der Rache kaltes Schwert - Crombie, D: Rache kaltes Schwert - And Justice there is None
zu dir.«
»›Angel‹«, wiederholte sie, wie um auszuprobieren, wie das Wort sich auf ihrer Zunge anfühlte. Der Klang gefiel ihr, genau wie das Bild, das sie in ihrer Vorstellung erblickte.
Und so wurde sie Angel – für Betty, für Bettys Bruder Ron und für alle Freunde, die danach kamen. Diese Kleinigkeit war es, die nicht nur ihre Freundschaft mit Betty festigte, sondern auch am Anfang der neuen Identität stand, mit der sie sich letztendlich von ihrer Familie lösen sollte. Was sie damals noch nicht ahnen konnte, war, dass das Bild des Engels auf dem Gemälde ihr erhalten bleiben würde, lange nachdem sie den Kontakt mit all jenen verloren hatte, die sie unter diesem Namen gekannt hatten.
4
Über die Ursprünge des Antiquitätenhandels in der Por tobello Road gibt es verschiedene Meinungen. Eine Theo rie besagt, dass nach der Schließung des Caledonian Mar ket – wo man vor dem Krieg gebrauchte Schränke und Bettgestelle günstig erstehen konnte – im Jahre 1948 eini ge der heimatlos gewordenen Antiquitätenhändler ihre Stände in der Portobello Road wieder aufschlugen.
Whetlor und Bartlett, aus: Portobello
Gemma schlug die Adresse von Dawn Arrowoods Freundin in dem Stadtplan nach, den sie immer im Auto hatte, und fand heraus, dass die Wohnung in der Nähe der U-Bahnstation South Kensington lag. Es war so nahe, dass sie beschloss, hinzufahren, ohne sich vorher anzumelden, und es war informell genug, ihren Alleingang zu rechtfertigen.
Der Regen ließ allmählich nach, als Gemma von der Polizeiinspektion losfuhr, und es schien ihr nur natürlich, noch rasch an dem Haus in St. John’s Garden vorbeizufahren und einen Blick darauf zu werfen.
Es sah größer aus, als sie es vom Abend zuvor in Erinnerung hatte; solider und gediegener. Sie dachte an die Wohnung ihrer Eltern über der Bäckerei, die billige Bude, die sie in ihrer ersten Zeit bei der Polizei mit einer Freundin geteilt hatte, die baufällige Doppelhaushälfte in Leyton, die sie zusammen mit Rob gekauft hatte, und die winzige Garagenwohnung, in der sie jetzt lebte. Heftige Zweifel überkamen sie. War sie diesem
Haus gewachsen, mit all den Erwartungen und Verpflichtungen, die damit verbunden waren?
Dann dachte sie an das nur ein paar Straßen weiter gelegene Haus ihrer Freundin Erika Rosenthal. In diesen Räumen hatte sie sich gleich behaglich und wie zu Hause gefühlt, und plötzlich wurde ihr klar, dass sich ihr mit diesem Haus die Chance eröffnete, sich selbst ein solches Leben zu schaffen. Es wäre ausgesprochen dumm, diese Chance nicht zu nutzen.
Sie schloss die Augen, um sich für ihre nächste Aufgabe zu sammeln, und in diesem Moment hatte sie eine Vision – weit weg und noch undeutlich, wie eine durch ein umgedrehtes Fernrohr erblickte Szene: Da waren sie alle in dem Haus versammelt, sie und Kincaid, die Jungen – und ein Kind, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte. Das Bild verschwand abrupt wie eine zerplatzende Seifenblase, doch ein Gefühl des Zuhauseseins, der Geborgenheit in der Familie, blieb zurück wie ein Traum, an den man sich nur bruchstückhaft erinnert.
Natalie Caine lebte in einem Bungalow in Onslow Gardens. Es war eine schicke Adresse, und das spiegelte sich auch in der Eingangstür der Wohnung: glänzende Farbe und poliertes Messing, flankiert von zwei perfekt geschnittenen Ziersträuchern in großen Terrakottatöpfen. Von drinnen kamen leise Geräusche aus einem Fernseher. Gemma hob den Türklopfer an und klopfte behutsam.
Ein Frau öffnete die Tür – so schnell, dass Gemma zu dem Schluss kam, sie müsse jemanden erwartet haben. Sie war groß, ein wenig füllig, mit olivenfarbener Haut und üppigem dunklem Kraushaar, das sie mit einer übergroßen Spange hinten zusammengerafft hatte, und sie sah aus, als hätte sie geweint. »Oh«, sagte sie und musterte Gemma mit gerunzelter Stirn. »Ich dachte, es wäre wegen des Fernsehers. Aber Sie kommen nicht deswegen, oder?«
»Ich fürchte nein.« Gemma zog ihren Polizeiausweis aus der
Jackentasche. »Mein Name ist Gemma James. Sind Sie Natalie Caine?« Als die Frau nickte, fuhr Gemma fort: »Ich dachte, ich könnte mich vielleicht kurz mit Ihnen über Ihre Freundin Dawn Arrowood unterhalten.«
Anstelle einer Antwort verzog Natalie ihr rundes Gesicht und begann zu schluchzen. Dann schüttelte sie entschuldigend den Kopf, während sie Gemma mit einer Handbewegung aufforderte, einzutreten. »Tut mir Leid. Ich heule schon den ganzen Morgen wie ein Baby.
Weitere Kostenlose Bücher