Der Rache Suesser Klang
Ärzte es nennen.«
»Das heißt, du kannst vorübergehend nicht richtig oder gar nicht sehen. Ich hatte mal eine Kundin, die darunter litt. Nicht schön, aber man kann damit umgehen.«
Es war überhaupt nicht so schwer gewesen, ihr von den Kopfschmerzen zu erzählen. Sie schien es sehr locker aufzunehmen. Das konnte er respektieren. Er lehnte sich zurück und betrachtete sie aus reinem Spaß an der Freude. Sie wirkte etwas struppig, und das Make-up hatte sich längst aufgelöst, aber er fand sie noch immer wunderschön und faszinierend. Noch mehr nun, da er wusste, wer sie wirklich war. Er hätte gerne gewusst, warum sie es geheim hielt. »Eine Kundin, die du fotografiert hast?«
Sie blinzelte. Mehrmals. »Diese Kundin? Nein.«
Er wartete, aber sie sagte nichts weiter. Betty brachte den Kaffee, und als sie wieder gegangen war, seufzte Dana. »Du hast mich gestern nach mir gefragt, und ich habe dir gesagt, dass ich es erzählen werde. Und das werde ich auch. Vielleicht nicht alles auf einmal, weil es mir sehr schwer fällt, bestimmte Dinge auszusprechen. Du musst einfach Geduld mit mir haben.«
»Man sagt mir nach, dass ich diese Tugend durchaus besitze«, sagte Ethan trocken. »Dann los.«
Sie holte tief Luft, als ob sie sich wappnen musste. »Ich bin hier in Chicago geboren. Ich bin noch nie aus Illinois herausgekommen.«
Ethans Augen weiteten sich. »Du meinst, du hast noch nie das Meer gesehen?«
»Nein, noch nie.« Sie nippte nachdenklich an ihrer Tasse. »Ich habe auch niemals vermisst … was ich verpasst haben könnte. Jedenfalls bis vor kurzem nicht. Ich bin nicht sicher, warum sich das gerade ändert.« Sie schwieg einen Moment nachdenklich, dann fuhr sie fort. »Mein Vater war Alkoholiker, und meine Mutter arbeitete in einem Hotel als Zimmermädchen, um unsere Miete zu bezahlen.« Sie zog eine Braue hoch. »Bist du jetzt schockiert?«
Sie wollte es so aussehen lassen, als würde sie keinen Deut darauf geben, aber Ethan spürte, dass ihr seine Antwort wichtig war. »Nein.«
»Okay. Mein Vater starb, als ich zehn war. Zwei Jahre später heiratete meine Mutter einen anderen. Der Kerl war schlimmer als mein Vater.«
Ethan wurde plötzlich übel, was sich anscheinend in seinem Gesicht abzeichnete, denn sie machte eine abwehrende Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Nein, das war es nicht. Er hat uns nicht missbraucht. Er hat uns nur verprügelt, uns und sie, meine Mutter. Ich hasste ihn, und er hasste mich. Ich lehnte mich gegen ihn auf, und als ich vierzehn war, lief ich weg.«
»Wen meinst du mit uns?«
»Ich habe eine Schwester.«
Dem entschlossenen Zug um ihren Mund entnahm er, dass sie das Thema nicht weiter vertiefen wollte.
»Aber du bist in Chicago geblieben?«
Sie lachte. »Himmel, ich habe nicht einmal die South Side verlassen. Ich tat mich mit einer Bande zusammen und …« Sie brach ab. Dachte nach. Hob eine Schulter. »Und wurde wegen Diebstahls eingebuchtet. Jugendstrafe. Und – schockiert dich das jetzt?«
Von der Jugendstrafe hatte er nichts erfahren, aber das war nur logisch. Jugendstrafen wurden nicht öffentlich gemacht. »Nein.«
»Okay. Ich saß meine Zeit ab und kam wieder raus, und man schickte mich nach Hause. Mein Stiefvater prügelte ein paar Wochen auf mich ein, dann reichte es mir. Ich hatte auf der Straße ein bisschen gelernt. Ich wusste, wie man mit einem Messer umgeht.«
Ethan riss wieder die Augen auf. »Du hast ihn niedergestochen?«
Braves Mädchen. Gut gemacht.
»Na ja, nicht wirklich. Ich hätte warten sollen, bis ich noch besser mit dem Messer umgehen konnte. Ich erwischte ihn, aber nicht so, wie ich wollte. Er ist wahrscheinlich genäht worden.« Sie lächelte und sah beinahe vergnügt aus. »Aber das Schöne ist, dass er sich auch vor Nadeln fürchtete.«
»Fürchtete? Ist er tot?«
Ihr Blick flackerte. »Nein, noch nicht. Aber er wird es bald sein, denke ich. Er ist krank und alt und hat sich selbst eine so tiefe Grube gegraben, dass keiner ihn mehr herausziehen will. Ich am wenigsten. Bist du
jetzt
schockiert?«
Langsam ärgerte er sich über die Frage. »Nein. Lebt deine Mutter noch?«
Nun war es nicht nur ein Flackern, das in ihren Augen zu sehen war. Da war Schmerz, so intensiv, dass es ihm den Atem verschlug. Sie senkte den Blick und trank einen Schluck Kaffee. »Nein. Sie ist tot.«
»Das tut mir leid.«
Sie zog die Mundwinkel herunter. »Mir auch.« Dann straffte sie die Schultern. »Aber zurück zu mir.«
Er hielt die Hand hoch.
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