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Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)

Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)

Titel: Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Poore
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kannte dieses Gefühl nicht. Er fragte sich, ob es Teil des Entsetzens und der Angst war, Teil seiner Sterblichkeit, die er so überdeutlich spürte.
    Der Offizier kettete ihn zusammen mit einigen anderen Gefangenen – Spionen? Deserteuren? – an einen Baum.
    Dann erklärte er ihnen, dass sie die seltene Gelegenheit erhalten würden, der Strafe zu entgehen und ihre Tapferkeit zu beweisen.
    »Ihr werdet heute Nachmittag an unserem Sturmangriff teilnehmen«, sagte er und sprach davon, welche Ehre das sei und dass sie Hundesöhne wären, die so eine Chance gar nicht verdient hätten. Er erklärte ihnen, dass sie weder Musketen noch Säbel oder Messer erhalten könnten und dass man ihnen nicht gestatten würde, eine Flagge zu tragen. Die Soldaten hinter ihnen hätten den Befehl, ihnen in den Rücken zu schießen, falls sie irgendetwas anderes machten als vorwärts zu marschieren und mit bloßen Händen den Feind zu bekämpfen. Falls sie überlebten, würde man sie nicht hängen. Falls sie sich tapfer verhielten, würde man ihnen die Freiheit schenken.
    Die Gefangenen schienen dankbar.
    Dann redete der Offizier von der Angriffswelle des Generals, und die Gefangenen schienen nicht mehr ganz so dankbar.
    »Da kann ich mich genauso gut gleich aufhängen lassen«, war einer der Gefangenen dumm genug zu murmeln.
    »Wie du meinst!«, bellte der Offizier und ließ ihn abführen und hängen.
    Der Teufel dachte über die Welle nach.
    Beinahe hätte er davon erzählt, wie er die Boston Tea Party organisiert hatte, doch der Offizier starrte ihn mit wilden, gelben Augen an, und der Teufel hielt den Mund.
    ***
    Der Boden erzitterte eine ganze Weile, bevor die Welle sich in Bewegung setzte.
    Die beiden Armeen feuerten den ganzen Tag Kanonenkugeln aufeinander … eine Armee in einer langen Linie unter den Bäumen, die andere auf dem Kamm eines sanften Hügels hinter einer Steinmauer. Zwischen ihnen eine Meile sommerlichen Dunsts, mit Amseln und weißen Motten. Über ihnen ein Himmel, der zu heiß war, um blau zu strahlen, mit darauf gemalten Wolken.
    Die Männer lagen im Gras oder warteten unter den Bäumen. Sie rührten sich nicht, wenn die Kanonenkugeln kamen. Ihre Offiziere hatten ihnen erklärt, dass sie entweder getroffen würden oder nicht, und dass es nicht das Geringste gäbe, was sie dagegen tun könnten – weswegen sie sich ebenso gut ruhig verhalten konnten.
    Es war, als würde man stillhalten und versuchen, nicht zu zucken, während einem ins Gesicht geschlagen wird. Sie schafften es, bezahlten aber einen hohen Preis dafür. Eine Kanonenkugel jagte kreischend heran, und manchmal, wenn man genau in die richtige Richtung schaute, konnte man sie sehen: Sie sah aus wie eine Krähe, die mit unheiliger Geschwindigkeit flog. Manche sagten, man könne es am Kreischen erkennen, ob sie einen treffen oder in der Nähe einschlagen würde. Andere meinten, dass man die Kugel nicht hörte, die einen treffen würde, und dergleichen mehr. Es wurden tausend verschiedene Dinge gesagt, alle, um sich zu versichern, dass man in Sicherheit war und dass einem nichts passieren würde.
    Und dann kam die Kugel und schlug in unmittelbarer Nähe ein, und man sah unfassbare Dinge, beispielsweise einen halben Mann, der zehn Meter hoch in die Luft gewirbelt wurde, große Bäume, die in der Mitte durchtrennt wurden und deren Kronen krachend und berstend zu Boden fielen. Männer, die von umherfliegenden Splittern geblendet wurden, die mit den Händen vor den Gesichtern aufsprangen und umhertaumelten, abgerissene Arme und Beine und rote Fontänen von umherspritzendem Blut. Männer, die dicht nebeneinander gestanden hatten, wurden durch grotesken Horror getrennt: An der einen Stelle Explosion und furchtbares Gemetzel, ein paar Schritte weiter Kameraden, die ruhig dastanden, die Augen starr nach vorn gerichtet, als lebten sie in einer völlig fremden Welt.
    Wie viele andere Soldaten hatte auch der Teufel sich eingenässt, ohne etwas zu bemerken. Die meisten konföderierten Soldaten hatten einen leeren, hohlen Blick – nicht jedoch der Teufel. Er hatte etwas entdeckt, das er nun unablässig anstarrte, ohne mit den Wimpern zu zucken.
    Auf der anderen Seite der tödlichen Meile, auf dem Kamm des sanften Hügels hinter den Kanonen und der Steinmauer, stand ein weißer Wagen. Auf der Seite waren große schwarze Buchstaben, und wenn man so reglos stand wie der Teufel und so scharfe Augen hatte wie er an jenem Nachmittag, dann konnte man beinahe Eggert G.

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