Der Ramses-Code
berechtigte Frage. Es gibt in der Tat bei den Hieroglyphen keinen eindeutigen Schriftverlauf. Ich habe den Eindruck, daß den ägyptischen Graveuren das Dekorative mindestens ebensoviel bedeutete wie der Sinngehalt der Zeichengruppen. Auf den Stichen, die von den Franzosen angefertigt wurden, sieht man das sehr deutlich: Die Hieroglyphen verlaufen bald waagerecht, bald senkrecht, bald spiegelverkehrt. Für die Art ihrer Anordnung scheinen ästhetischeErwägungen eine Hauptrolle gespielt zu haben, wobei das oberste Prinzip offenbar darin bestand, möglichst die gesamte Fläche auszufüllen. Aber ich habe die Antwort auf die Frage nach der Schreibrichtung. Sie verbirgt sich in den figürlichen Zeichen: Die Menschen- oder Tierbilder blicken innerhalb eines zusammenhängenden Textkörpers stets in dieselbe Richtung – und zwar zum Zeilenanfang.«
»Genial«, flüsterte Gurney. »Mir ist, als würdest du langsam einen schweren Vorhang lüften, den die Zeit über diese Schrift gelegt hat. – Also zurück zu den Charakteren, die du eben aufgemalt hast: Was bedeuten sie?«
»Ich behaupte, daß sie den Namen ›Ptolemaios‹ darstellen und daß man sie so liest« – Young schrieb:
»P-t-ole-ma-i-os. So liest man den griechischen Namen in Hieroglyphen.«
Hudson Gurney sperrte Mund und Augen auf. »Thomas«, stammelte er, »weißt du, was du das sagst? Wenn das stimmt, bist du der erste Mensch seit Hunderten von Jahren, der diese Zeichen lesen kann – und dann hast du 1000 Pfund gewonnen.«
»Die habe ich allerdings gewonnen, denn unser verrückter Ravenglass hat gewettet, ich sei nicht imstande, auch nur eine einzige Hieroglyphe zu lesen. – Nun höre aber weiter. In der ›Description de l’Egypte‹ habe ich folgendes gefunden. In die Decke eines Tempels in Karnak sind eine griechische und eine hieroglyphische Inschrift eingemeißelt, die eindeutig zueinander in Beziehung stehen. In ersterer fand ich den Namen eines anderen Ptolemäers, nämlich des Ptolemaios Soter, und den seiner Gemahlin Berenike. In den Hieroglyphen entdeckte ich die Ptolemaios-Kartusche direkt neben einer anderen, und ich denke, niemand wird meiner Schlußfolgerung widersprechen, daß es sich um die Kartusche seiner Gemahlin, der Königin Berenike, handelt. Sie sieht so aus«:
»Ich wette, du weißt auch, wie man ›Berenike‹ liest«, sagte Guerney mit Emphase.
»Genug von Wetten, aber du hast recht. Wobei es in diesem Fall etwas schwieriger war. Wie du siehst, kommen zwei Zeichen auch im Namen des Ptolemaios vor, nämlichund, die ich identifiziert hatte als I und T. Ich bin nach längerer Grübelei zu dem Ergebnis gekommen, daß die letzten beiden Zeichen, also auch das T, entweder bloßer Zierat sind – oder sie symbolisieren, daß es sich um einen weiblichen Namen handelt. Das I steht etwas weiter am Anfang, als man annehmen sollte, also muß einer der Charaktere davor eine längere Silbe enthalten. Ich erinnerte mich, daß man der koptischen Sprache eine gewisse späte Verwandtschaft mit dem Altägyptischen nachsagt, und suchte nach den koptischen Worten für die beiden figurativen Zeichen. Das erste identifiziere ich als einen Korb, und Korb heißt auf koptisch bir . Bei Kircher, von dem ich dir vorhin erzählte, las ich wiederum, daß Gans auf koptisch ken geheißen habe. Das ist doch eine Gans, oder? Nachdem ich diese Bedeutung einsetzte, kam ich auf folgendes Rumpfwort: Bir– – i – ken. Der eine oder andere Vokal kann sich im Laufe der Jahrhunderteschon mal in einen anderen verschieben, der eine oder andere Konsonant kann verschwinden, man muß das bei diesen Altorientalen nicht so eng sehen. Damit ist auch das Rätsel des nächsten Namens gelüftet« – Young schrieb:
»Ber-e-n-i-ke. Damit hatte ich bereits die lautliche Bedeutung von zehn Zeichen erkannt.«
Gurney drückte dem Physiker die Hand und strahlte dabei, als sei ihm selbst die Entzifferung der Namen gelungen. »Thomas, du bist und bleibst ein unbegreifliches Genie«, sagte er ergriffen. »Entschuldige, daß mich vorhin ein Hauch von Zweifel heimgesucht hat, ich bin ein schrecklicher Ignorant. Aber du belehrst mich beharrlich eines Besseren. Wann wirst du mit diesen Ergebnissen zu Ravenglass gehen und deinen Gewinn einstreichen?«
»Das hat noch Zeit. Ich weiß, offen gestanden, gar nicht, was ich mit dem vielen Geld anfangen soll. Zunächst muß ich mir ein geeignetes Forum suchen, um meine Hieroglyphen-Entzifferung zu veröffentlichen.«
»Aber du kannst
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