Der Ramses-Code
Patagonien‹?«
»Genau, das ist er.«
»Aber was nutzt uns ein Zirkusartist bei unseren ägyptischen Unternehmungen?«
»Belzoni ist ein Filou und Abenteurer. Er befindet sich seit vergangenem Jahr am Nil, um Geld zu machen. Ich werdeversuchen, ihn bei der Jagd nach Altertümern für uns einzuspannen. Sein mächtiger Wuchs und seine unerschrockene Art sichern ihm den Respekt der Einheimischen, seine gewaltige Kraft dürfte bei der Bergung der Antiquitäten von Nutzen sein, er besitzt einen gewissen Kunstverstand, kennt den Pascha persönlich –«
»Er ist mit Muhammad Ali bekannt? Wie kommt er dazu?«
»Belzoni hat eine Pumpe für ihn konstruiert, mit welcher er Nilwasser auf die Felder leiten will. Das heißt, er ist zudem ein Mann mit technischem Sachverstand. Damit besitzt er sämtliche Eigenschaften, die ein Schatzsucher benötigt: Kraft, Wagemut, technische Fähigkeiten, Kunstsinn, Kontakte. Außerdem braucht er ständig Geld. Er ist wie gemacht für uns.«
Der Baron nickte begeistert. »Gut«, sagte er, »sehr gut sogar. Es ist wie mit Thomas Young. Es gibt keine Spezialisten für die Entzifferung toter Sprachen, und es gibt keine für die Bergung von Altertümern. Ungewöhnliche Vorhaben bedürfen ungewöhnlicher Ausführender. Ich werde Ihnen sofort einen Wechsel ausstellen, damit Mister Belzoni sieht, daß er mit seinen Bedürfnissen an der richtigen Adresse ist. Lassen Sie uns auf den Samson aus Patagonien anstoßen – aber Sie trinken ja gar nicht, mein Bester, Ihr Glas ist ja noch ganz voll!«
40
Während im fernen London ein Kunstraub großen Stils organisiert wurde, harrten die Champollion-Brüder weiterhin ihrer Begnadigung. Seit Waterloo waren nun schon mehr als zwei Jahre ins Land gegangen, die innenpolitische Lage in Frankreich hatte sich beruhigt, die Restauration fiel eher gemäßigt aus, nur die Exulanten schienen von der allgemeinen Lockerung nicht erfaßt zu sein. Ob man sie vergessen hatte?
Fourier konnte nichts für sie tun; er war wieder Privatier, ein Naturwissenschaftler ohne politischen Einfluß. Renauldon, bei dem die Brüder vorsichtig angefragt hatten, wie lange ihre Entfernung von Stadt und Universität wohl nochwähren dürfte, schrieb einen ausweichenden Brief, in dem er sie zur Geduld mahnte, an die Hinrichtung des unseligen Professor Didier erinnerte und zu bedenken gab, daß die Universität Grenoble vermeintlichen Hochverrätern ihre Pforten für sehr lange Zeit verschließen werde.
Das waren keine guten Aussichten. Jacques-Joseph war deprimiert, weil er Frau und Kinder so lange nicht gesehen hatte. Er vertraute der wöchentlich verkehrenden Postkutsche nach Hause Briefkonvolute von beachtlicher Dicke an. Beider Versuche, in Figeac eine Anstellung zu finden, waren gescheitert: Niemand wagte, sie zu beschäftigen. So mußten sie mit ihren wenigen Ersparnissen auskommen und sich damit trösten, daß Frau Zoës Familie die Daheimgebliebenen unterstützte. Geld, um ihren Frauen eine Reise nach Figeac zu spendieren, besaßen sie nicht.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte Jacques-Joseph düster, »daß ich den Ort einmal hassen würde, aus dem wir stammen und den ich sogar in meinen Namen aufgenommen habe.«
Da ihre Lage im Unterschied zu einem Verurteilten, der weiß, wieviel Zeit er hinter Schloß und Riegel zu verbringen hat, unbefristet war, harrten sie täglich halb unbewußt ihrer Begnadigung – und wer so ziellos wartet, dem dehnt sich die Zeit ins Unerträgliche. Sie lasen und arbeiteten viel, um die endlosen Tage auszufüllen. Beide verbesserten ihr Englisch und lernten Deutsch, weil sie glaubten, daß die Sprachen der ehemaligen Kriegsgegner ihnen künftig von Nutzen sein könnten, insbesondere im wissenschaftlichen Austausch.
Die meiste Zeit verbrachte Jean-François indes mit den ägyptischen Schriften. In seinem Kopf waren so viele hieroglyphische und demotische Texte gespeichert, daß er, an die Wand oder aus dem Fenster starrend, die Zeichenfolgen in sich abrollen lassen und ihre Funktionsweise zu ergründen suchen konnte. Augenzeugen würden den unbewegt sitzenden jungen Mann mit dem glasig nach innen gerichteten Blick wohl für verrückt gehalten haben. Immer wieder stellte er sich dieselbe Frage: Nach welchen Prinzipien war diese Schrift aufgebaut? Er zählte, verglich, zergliederte, fügte neu zusammen, transkribierte Hieroglyphen ins Demotische, insKoptische und wieder zurück, ohne zu wissen, ob seine Übersetzungen stimmten, begann wieder von vorn
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