Der Ramses-Code
Ergebnis.« Er stand von der Bank auf und lief verärgert ins Haus.
Nun sprachen sie eine Zeitlang nicht mehr miteinander.
Zu allem Übel traf einige Tage später ein Brief von Fourier ein. Jacques-Joseph las ihn als erster; dann reichte er ihn schweigend und mit düsterer Miene dem Bruder.
Der Mathematiker schrieb, daß der englische Gelehrte Thomas Young, der ihm als exzellenter Fachkollege schon seit längerem ein Begriff und den Brüdern vielleicht bekannt sei, sich seit einiger Zeit dem Hieroglyphenproblem widme und nun die ersten Lesungen vorgelegt habe. Drei Herrschernamen habe er entziffert. Fourier listete Youngs Arbeit detailliert auf, erklärte im Anschluß, daß der Londoner den Ägypten-Artikel für die neue ›Encyclopaedia Britannica‹ verfassen und dort weitere Erkenntnisse über die Schrift der Ägypter publizieren werde und derzeit als erste Autorität in Sachen Hieroglyphen gelte. Der Brief schloß mit der Frage, was Jean-François von seinen Ergebnissen halte.
»Thomas Young – als ob ich es damals geahnt hätte«, stöhnte Jacques-Joseph und sah seinen Bruder vorwurfsvoll und traurig zugleich an. »Er hat die ersten Hieroglyphen entziffert. Mein Gott, hättest du das nicht auch gekonnt? Es sieht doch ganz simpel aus, gerade die Idee mit den koptisch zu lesenden Symbolen im Namen der Berenike. Du hast doch immer den Wert des Koptischen betont …«
»Ach, reden wir plötzlich wieder miteinander?« unterbrach ihn Jean-François.
Jacques-Joseph verstummte. Wozu dem Bruder jetzt Vorwürfe machen, dachte er, in dieser bitteren Stunde. Doch Jean-François, der die Brieflektüre aufs äußerste gespannt begonnen hatte, wirkte auf einmal ziemlich gleichgültig.
»Es sieht nicht gut aus, nicht wahr?« erkundigte der Ältere sich vorsichtig.
»Wie kommst du auf diesen Unsinn? Es sieht schlecht aus, gewiß – für alle diejenigen, die mit den Ratschlägen dieses Londoner Ödipus im Kopf vor die ägyptische Sphinx treten wollen! Und offenbar steht es schlecht um deinen Verstand, mein Lieber. Wenn es wirklich so simpel wäre, dann hätte ich längst sämtliche Inschriften auf dem Tempel von Dendera ins Französische übersetzt. Ich sehe mit Bestürzung, daß du mir nicht mehr vertraust und statt dessen, wie dieses gelehrte Pariser Hornvieh, zu dem ich ab heute auch Fourier zählen muß, dem erstbesten Hieroglyphen-Nostradamus applaudierst. Ich weiß nicht, wie man Ptolemaios liest, aber so ganz gewiß nicht. Und die dritte Gruppe, die er anführt, bedeutet nie und nimmer Arsinoë, denn es ist ein männlicher Name.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Jacques-Joseph verdutzt.
»Weil ihm die weibliche Endung fehlt.«
»Ach du mit deinen Endungen!« brauste nun Jacques-Joseph auf. »Und was ist mit Youngs Entdeckung, daß fremde Herrschernamen mit alphabetischen Hieroglyphen geschrieben werden?«
»Darauf bin ich schon vor Jahren gekommen –«
»Aber er hat es publiziert, zum Teufel, er gilt jetzt als der Entdecker!«
»Er wird sich lächerlich machen wie all die anderen vermeintlichen Entzifferer. Denke nur an Jomard! Young hat das Prinzip der Sprache nicht entdeckt, er ist ein blind herumtappender Rätselrater. Mich gemahnt seine voreilige Publikation nur an deinen Rat, den du offenbar inzwischen vergessen hast: nämlich nicht voreilig zu sein. Ich will zuerst wissen, welches Gesetz dafür verantwortlich ist, daß gerade diese und nicht andere Hieroglyphen die Wiedergabe von Ptulms bedeuten –«
»Von was bitte?«
»Ptulms. Nie würde ein Ägypter Ptolemaios ausschreiben. Nach allem, was ich weiß, besaßen sie keine Vokale!«
»Das hat dir wohl Thot heute Nacht im Traum offenbart, wie?«
»Nein, ich beschäftige mich nur seit dreizehn Jahren mit dieser Schrift!«
»Ach, und wie haben sie Ramses geschrieben oder Sesostris?«
»Ich weiß es nicht. Bestenfalls haben sie die langen Vokale berücksichtigt. Das u, welches ich eingefügt habe, ist vermutlich ein rudimentärer Konsonant, den sie als Quasi-Vokal verwendet haben. Vielleicht haben sie generell für alle Vokale der Fremdnamen solche Quasi-Zeichen verwendet. Es ging für die Ägypter darum, eine Schreibweise zu finden, die dem griechischen Original am nächsten kam, keineswegs, wie Young glaubt, um eine buchstabengetreue Übersetzung, denn das war ihnen nicht möglich. Der Mann ist auf dem Holzweg. Aber ich lebe fern von jeglichem Originaldenkmal, eine Reise nach London oder Paris ist mir nicht nur unerschwinglich, sondern
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