Der Ramses-Code
ist, dann könnte es sich um einen dem Stein von Rosette vergleichbaren Fund handeln, und unsere Gelehrten dürften daraus neue Aufschlüsse über die Hieroglyphenschrift gewinnen. Ich beherrsche kaum Altgriechisch, aber hier auf dem Sockel steht der Name der Königin Kleopatra. Man darf also annehmen, daß ihr Name auch in den Hieroglyphen auftaucht. Vielleicht steht er in diesem Namensring.« Belzoni deutete auf eine Stelle des Obelisken, wo diese Zeichenkombination eingraviert war:
»Ein Löwe, zwei Geier«, kommentierte derselbe Herr, der vor wenigen Minuten den Untergang Albions beschworen hatte. »Was soll das mit einer Königin zu tun haben, deren Schönheit einen Julius Caesar betörte?«
»Professor Young ist der Ansicht, daß diese Zeichen keine Bilder sind, sondern Buchstaben«, versetzte der Italiener.
»Ach was? Sieht das denn wie Buchstaben aus? Das glaube ich nicht«, monierte der Mann.
Allgemeines Gemurmel entstand, und Ravenglass starrte auf die Namenskartusche.
Stimmt, dachte er, diese Zeichen sehen keineswegs wie Buchstaben aus. Auf dem Rosette-Stein, in den sie – verglichen mit dieser herrlichen Steinmetzarbeit – mehr oder weniger hineingekratzt sind, da könnte man sie allenfalls für Buchstaben halten. Aber hier? Das waren doch Bilder! Jede Hieroglyphe ein kleines Meisterwerk! Und im Grab des Psammetich erst recht: bunt gemalte Bilder. Young hat zwar überhaupt erst herausgefunden, daß dieses Grab dem Psammetichgehörte, aber mit seiner Hieroglyphen-Liste in der »Encyclopaedia Britannica« kann ich nichts anfangen, und er offenbar auch nicht viel. Nach wie vor ist kein Mensch imstande, Hieroglyphen-Texte zu lesen. Ob Young mich hereingelegt hat?
Belzoni breitete wie entschuldigend seine Arme aus, wodurch er noch riesiger wirkte und das Getuschel zum Schweigen brachte. »Ich fühle mich außerstande, diese Frage zu beantworten«, sagte er. »Ich kann Ihnen aber mitteilen, wem es zu verdanken ist, daß dieser Obelisk und all die anderen Funde heute in London zu besichtigen sind, nämlich Baron Ravenglass, der einen großen Anteil der Transportkosten und die Last der Organisation trug.«
Der Hüne wies auf den Angesprochenen, und Ravenglass vergaß fürs erste seine düsteren Gedanken. Unter dem Beifall der Anwesenden verneigte er sich flüchtig, dann war der Rundgang beendet. Die Menge strömte nach draußen, andere Besucher rückten nach.
»Sind Sie zufrieden Baron?« erkundigte sich Belzoni.
Ravenglass nickte. »Die Ausstellung ist ein großer Erfolg. Sehen Sie doch, wie viele Neugierige sich draußen noch drängen. Aber wo ist Young?«
Der Gesuchte befand sich noch immer in den faksimilierten Grabkammern des Psammetich. Er hatte sich dort mit seinem Freund Hudson Gurney auf einer der gepolsterten Bänke niedergelassen und war ganz in die Betrachtung der Wände versunken. Zwar hatte er sie einzeln vorher schon gesehen, aber nun, als Gesamtbild im Dämmerlicht, bezauberte ihn das Grab derart, daß er sich nicht losreißen konnte.
»Beim heiligen Isaac Newton, hast du jemals so etwas Schönes gesehen, Hudson?« flüsterte er. »Ich dachte immer, Gleichungen und Formeln seien das Schönste und Formvollendetste auf Erden, aber ich muß mich korrigieren. Was mußt du für ein Mensch gewesen sein, daß man so etwas für dich schafft? Eine unterirdische Kathedrale, in der dein Leichnam ewig lebt.«
Hudson Gurney war überrascht, seinen sonst so nüchternen Freund derart ins Schwärmen geraten zu sehen. Erglaubte, eine Spur von Selbstkritik in diesen Worten zu hören, dachte daran, daß Young seit zwei Jahren, seit dem Erscheinen der großen Enzyklopädie, keinen Fortschritt bei der Lösung des Hierolyphen-Rätsels mehr vermelden konnte – die Identifizierung des Königs, dem dieses Grab geweiht war, ausgenommen –, und fragte: »Wie bist du überhaupt darauf gekommen, wem das Grab gehörte?«
»Das war ganz einfach: Ich habe bei Herodot nachgeschlagen.«
»Wie bitte?«
Young war in die Gegenwart zurückgekehrt, und eines der von ihm regelmäßig zelebrierten Rituale bestand bekanntlich darin, seinen Freund stutzen zu machen und ihm Rätsel aufzugeben. »Ich habe«, wiederholte er, »nur nachgelesen. Herodot schreibt nämlich, der Pharao Necho habe Jerusalem und Babylon erobert, und sein Sohn Psammis habe Krieg gegen die Äthiopier geführt.«
»Ja – und?«
»Nun sieh dir einmal diese Prozession an, der wir gegenübersitzen.«
Der Professor wies mit der Hand auf eine
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