Der Ramses-Code
Napoleon begeistert hatten, und die Universität wollte sie nicht mehr anstellen. Die königliche Begnadigung war im Juni 1819 eingetroffen; danach hatte die beiden fast zwei Jahre vergeblich versucht, sich am Fuße der Alpen wieder einzuleben, und schließlich entschieden, in der Hauptstadt eine neueExistenz aufzubauen und später ihre Familien nachzuholen – zumindest Jacques-Joseph, der ein Tatmensch geblieben war wie eh und je und in dessen Antlitz, davon abgesehen, daß die warmen braunen Augen noch immer etwas traurig blickten, die Gramzeit des Exils kaum Spuren hinterlassen hatte. Sein Bruder jedoch bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Als hoffnungsvoller, schaffensfroher, idealistischer junger Mann war Jean-François im September 1807 an die Seine gekommen, fünfzehn Jahre später war er ein überarbeiteter, nervlich zerrütteter, bekümmerter Mensch ohne Elan. Ein bleiches, kränkliches und abgemagertes Gesicht blickte unter der schwarzen, stellenweise schon ergrauten Mähne hervor, die dadurch desto struppiger wirkte. Er war dünn geworden, sah immer schlechter, litt unter Schwindelgefühlen und gelegentlichen Ohnmachtszuständen.
Sein Ausschluß aus dem wissenschaftlichen Leben, der Aufenthalt im heruntergekommenen, schlecht geheizten, einsamen Elternhaus und das jahrelange verzweifelte Grübeln hatten sein Nervensystem überreizt und seine Gesundheit untergraben.
Dazu kam, daß Pauline ihm in den Jahren des Exils sozusagen in doppelter Hinsicht untreu geworden war. Lange Zeit hatte sie tapfer ausgeharrt und die Schmach, Gattin eines Hochverräters zu sein, ebenso stoisch getragen wie Frau Zoë. Später aber hatte sie ihre Einsamkeit in die Arme eines Handwerkergesellen getrieben, wo sie freilich nur kurz Trost fand: dann übermannten sie Scham und Zerknirschung, und als eine bußfertige Sünderin sah man sie seither jeden Tag in der Kirche knien. Als Jean-François nach Grenoble zurückkehrte, fand er dort statt einer sinnenfrohen Frau eine verhärmte Frömmlerin, deren Fleischeslust erloschen war – ein Grund mehr, nach Paris zu gehen.
Wer die Champollions jetzt sah, hätte Mühe gehabt, zu unterscheiden, welcher der Ältere war. Die letzten Monate des Jahres 1821 hatte Jean-François im Bett verbracht, aus Kraftlosigkeit und weil der Arzt befürchtete, er werde einen Schlaganfall erleiden. Das Schlimmste aber: Sein Blick war erloschen.
Jacques-Joseph, der diesen allmählichen Verfall mit Bestürzung erlebte, war wieder in die Rolle des großen Bruders geschlüpft, der den Jüngeren aushält und durchs Leben führt. Er tat dies mit der Selbstverständlichkeit, mit der er Jean-François in seiner Jugend unterstützt hatte. Er glaubte nur nicht mehr an Jean-François’ Berufung. Der Bruder war wunderlich geworden, und mitunter schien es dem Älteren, er sei nicht mehr recht bei Verstand. Natürlich sagte er es ihm nie ins Gesicht, aber wenn Jean-François es hätte sehen wollen, hätte er diesen Gedanken im mitleidig-traurigen Blick seines Bruders lesen können.
Von ihrer Dachwohnung in der Rue Mazarin gelangte man mit wenigen Schritten durch die Fußgängern offenstehenden Höfe des Institut de France direkt an die Seine, an deren gegenüberliegendem Ufer sich der gewaltige Gebäudekomplex des Louvre erstreckte. Trotz der geringen Mühe, die dieser Weg bereitete, hatte Jean-François wenig Lust gezeigt – Jacques-Joseph mußte ihn erst anherrschen, er möge sich zusammenreißen und aus seinem Loch herauskommen. Nun standen die beiden fröstelnd in der Menge und warteten geduldig, bis sie an die Reihe kamen.
Wie alle Welt wußte, hatte der Archäologe Lelorrain den Tierkreis mit Hilfe von Flaschenzügen und Dutzenden Einheimischen vom Plafond einer Halle des großen Tempels gelöst, die Abwesenheit des britischen Generalkonsuls Henry Salt ausnutzend, der irgendwo weiter im Süden graben ließ und den Franzosen das Stück gewiß streitig gemacht hätte. Das wertvolle Rundrelief war Ende September in Marseille und im Januar in Paris angekommen, und es rief seit seiner Ankunft auf französischem Boden helle Aufregung hervor, wozu vornehmlich der Streit um sein Alter Anlaß gab. Gelehrte aus allen europäischen Ländern beteiligten sich daran, unter ihnen der berühmte Astronom Laplace, Fourier, Jomard und natürlich Thomas Young.
Young hatte sich der Idee angeschlossen, der Tierkreis symbolisiere die Stellung der Himmelskörper zur Zeit der Erbauung des Tempels. Astronomen und Astrologen
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