Der Ramses-Code
vorkommt. Entdecken Sie in dieser Folge zwei identische Zeichen, die für o stehen könnten? Ich sehe jedenfalls keine. Und schon plagt einen der Zweifel, ob das tatsächlich der Königsname sein kann oder ob das Demotische überhaupt eine Buchstabenschrift ist.«
»Und welche Schritte gedenken Sie als nächstes zu unternehmen?«
»Ich werde dasselbe Auszählverfahren mit den anderen Eigennamen durchführen. Den der Berenike glaube ich bereits entdeckt zu haben. Dann werde ich überprüfen, ob sich Zeichen wiederholen, denn in den verschiedenen Namen des griechischen Textes tauchen einige Buchstaben mehrmals auf, beispielsweise das a in Alexandros, Aetes und Arsinoë. Theoretisch könnte man, wenn man solche Zeichen identifiziert hat, außerhalb der Namen nach ihnen suchen und sie an den entsprechenden Stellen einsetzen. Nur: Um dann Worte entziffern zu können, müßte man die Sprache kennen, die wir die demotische nennen.«
»Das klingt alles sehr pessimistisch«, sagte Fourier.
»Ja. Ich glaube nicht, daß ich viel mehr leisten kann, als im demotischen Text die Stellen zu markieren, an denen ich die Eigennamen vermute.«
»Und vor den Hieroglyphen strecken Sie die Waffen?«
»Ja.«
»Wie schade.« Fourier wirkte aufrichtig betrübt.
»Es gibt Dinge, die kann man nicht zwingen«, entgegnete der Orientalist mit verlegenem Lächeln, »seien es Befehle Bonapartes oder jahrtausendealte Geheimnisse. Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich bin nur ein einfacher Gelehrter,der sich durch Fleiß erworben hat, was ihm an Genie fehlt.«
»Ich erlaube mir zu protestieren …«
»Nein, nein, lassen wir die Kirche im Dorf. Ich komme mit diesem Stein nicht weiter. Seit Monaten zermartere ich mir den Kopf, mitunter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und das Ergebnis ist lächerlich. Ich fürchte, dieser Aufgabe muß sich ein Mann widmen, der begabter ist als ich. – Wann, mein lieber Fourier, werden Sie nach Grenoble aufbrechen?«
Der Mathematiker erhob sich. »Sofort«, sagte er, »ich werde meine Sachen packen und in den nächsten Tagen abreisen.«
4
Fouriers Übellaunigkeit wegen seiner vermeintlichen Verbannung in die Provinz legte sich, als die von zwölf Berittenen eskortierte Kalesche, über Lyon kommend, wo man das letztemal Quartier genommen hatte, das Tal der Isère erreichte und von Nordwesten her in Grenoble einrollte. Man schrieb den 18. April des Jahres 1802. Der neuernannte Präfekt genoß den majestätischen Anblick des in der Abendsonne erglühenden Alpenpanoramas, als Vivat!-Rufe an sein Ohr drangen. Sein Wagen hatte den imposanten, das gesamte Tal überragenden Bau des Forts de la Bastille, das mit dem etwas niedriger gelegenen Fort Rabot die Zitadelle Grenobles bildete, hinter sich gelassen und näherte sich der westlichen innerstädtischen Isère-Brücke. Fourier schob die wollene Decke, in die er sich gehüllt hatte, zur Seite, um nach den Urhebern der Rufe zu schauen. Zu beiden Seiten der Straße und auf der Brücke standen Trauben von Menschen, die, kaum daß sie ihn am Fenster erblickt hatten, vielstimmig und deutlich lauter ihr »Vivat!« und »Es lebe der Präfekt!« intonierten.
Binnen weniger Momente durchlief der Mathematiker ein Wechselbad aus Überraschung, Bestürzung und Freude. Nachdem sich seine letzten Zweifel zerstreut hatten, ob dieserEmpfang tatsächlich ihm gelte, begann er, zuerst noch ein bißchen gehemmt, zurückzuwinken. Er hatte Lyon spät verlassen, um gegen Abend hier anzukommen (möglichst nach Einbruch der Dunkelheit, aber entweder hatte sich der Kutscher verkalkuliert, oder die Pferde waren zu kräftig ausgeschritten); er wollte sein neues Amt ohne viel Aufhebens antreten – und nun dieser Empfang! Es mochten womöglich mehrere tausend sein, die dort standen und ihm zujubelten. Fourier war gerührt.
Der Wagen hielt an der Westseite des Jardin de la Ville. Der Präfekt stieg aus, die Menge applaudierte, und die Notabeln der Stadt, die zu Füßen der Rathaustreppe ein Empfangskomitee bildeten, begrüßten den Ankömmling.
In der Menge befanden sich auch die Gebrüder Champollion. Die Nachricht, daß der berühmte Naturwissenschaftler, Chef der französischen Gelehrtenkommission in Ägypten, die Präfektur in Grenoble antreten werde, hatte sie genauso überrascht und elektrisiert wie viele Bürger der Stadt. Vor allem der Jüngere war außer sich vor Begeisterung, denn er malte sich aus, daß er den berühmten Mann kennenlernen würde. Jean-François wußte zwar
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