Der Ramses-Code
Ägyptern in der dritten Person, also auf eine Weise, als gehöre er nicht zu ihnen. Von seinem Buch gibt es neben der griechischen Fassung auch einige lateinische Übersetzungen.«
»Woher bekomme ich diese Schrift?«
»Ich werde dir ein Exemplar aus der Bibliothek mitbringen, das kannst du dir abschreiben. Vielleicht finden wir auch eins beim Trödler. In letzter Zeit werden hier oft private Bibliotheken zum Verkauf angeboten, meist für Spottpreise. Viele, die durch Revolution und Krieg verarmt sind, verkaufen nach und nach alles, was sie haben.«
Jacques-Joseph blätterte in den herausgetrennten Seiten. »Ja, Horapollo«, murmelte er, »der ist konkreter als die Alten, bei denen sich nur Andeutungen über die Schriftzeichen der Ägypter finden.«
»Schreibt der denn tatsächlich, diese Hieroglyphe bedeutete das und jene das?«
»So ungefähr.«
»Aber dann müßte man sie doch lesen können!« rief Jean-François aufgeregt.
»Das ist nicht so einfach. Horapollo schreibt, die Hieroglyphen seien eine Symbolschrift gewesen. Und Symbole muß man deuten.«
»Und: Deutet er sie?«
»Ja, aber immer nur einzeln, jede für sich, nie einen größeren Sinnzusammenhang – und die meisten Zeichen haben, wie er es erläutert, eine Mehrfachbedeutung. Es ist also nicht so, daß man sich mit Horapollos Buch wie mit einem Wörterbuch vor eine Inschrift stellen und sie übersetzen könnte. Das nehme ich zumindest an, denn ich habe noch nie eine originale Hieroglypheninschrift gesehen.«
»Wozu taugt dieses Buch dann aber?«
Jacques-Joseph zuckte mit den Schultern. »Es versucht, das Prinzip der Hieroglyphenschrift zu erklären. Du erinnerst dich doch gewiß an die alte Fabel vom Perserkönig Dareios, der mit seinem Heer gegen die Skythen zog. An der Grenze kamen ihm skythische Abgesandte mit einer Botschaft entgegen. Da man keine gemeinsame Sprache hatte, bestand die Botschaft aus Symbolen: einer Maus, einem Fisch, einem Vogel und einem Bündel von Pfeilen. Dareios ließ seine Berater kommen, daß sie ihm die Nachricht deuteten. Die Ratgeber interpretierten sie so: ›Wir unterwerfenuns dir mit unserem Land‹ – das symbolisierte die Maus –, ›unseren Flüssen und Seen‹ – das der Fisch –, ›der Luft, die wir atmen‹ – dafür stand der Vogel –, ›und unseren Waffen‹ – die Pfeile eben. Ein weiser Alter aber las die Botschaft ganz anders, nämlich: ›Wenn du dich mit deinem Heer nicht in der Erde verkriechst wie eine Maus, im Wasser verschwindest wie ein Fisch, wenn du dich nicht in die Lüfte erhebst und davonfliegst wie ein Vogel, dann wirst du unseren Pfeilen nicht entgehen.‹ Wie der Fortgang der Ereignisse zeigte, lag der zweite Deuter goldrichtig. Die beiden Lesarten gingen ziemlich auseinander, obwohl sie auf denselben Zeichen beruhten …«
»Und du meinst«, unterbrach Jean-François, »beziehungsweise Horapollo meint, so habe man auch die Hieroglyphen zu deuten?«
»Nicht ganz so willkürlich. Aber identisches Zeichen heißt wohl nicht identische Bedeutung. Offenbar gab es bei den Ägyptern einen Katalog möglicher Lesarten für jedes Zeichen. Die Botschaft der Skythen an Dareios ist jedenfalls eine Art Urform der symbolischen Kommunikation. Im Grunde sind die Maus, der Fisch, der Vogel und die Pfeile Hieroglyphen.«
»Eine Symbolschrift also.«
»Ja, und solche Bildzeichen lassen sich nicht exakt lesen, sondern müssen interpretiert werden. Im Grunde tun wir das heute noch. Mit einem Kreuz können wir die Passion Christi darstellen, mit einem Davidstern das Volk Israel, mit einem Äskulapstab einen Arzt, mit einem Totenkopf ein Piratenschiff und so weiter. Allerdings gilt das nur für unseren Kulturkreis; woanders könnten dieselben Bilder ganz andere Assoziationen hervorrufen. Das Problem wäre also, daß wir nicht wissen, welche Symbole bei den Ägyptern wofür standen. Und da kann Horapollo vielleicht weiterhelfen.«
»Du mußt mir dieses Buch unbedingt mitbringen!«
»Ich werde daran denken. Und du mußt es nicht mal zerpflücken, weil es von vorn bis hinten nur von deinem Lieblingsthema handelt.«
Jean-François senkte die Augen. »Und du bist mir nichtböse«, fragte er, »weil ich die schönen Bücher zerstört habe? Weißt du, ich sitze den lieben langen Tag in der Wohnung und habe nichts anderes als Bücher, um mir die Zeit zu vertreiben.«
»Ich bin nicht böse, aber wirf auch du mir bitte nicht vor, daß du hier herumsitzen mußt, während ich arbeite. Ich habe dir
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