Der Ramses-Code
vorher gesagt, wie schwer es sein wird, vernünftigen Unterricht für dich zu finden. Du würdest dich in einer normalen Schule zu Tode langweilen. Seit der Revolution ist unser Unterrichtswesen eine einzige Katastrophe, aber es heißt, Bonaparte wird alles in Ordnung bringen, nachdem wir nun endlich Frieden haben. Und mit deinem letzten Privatlehrer warst du auch unzufrieden, obwohl der Mann nicht billig war!«
»Es tut mir leid«, sagte Jean-François leise, »ich hänge dir hier wie ein Klotz am Bein. Dabei möchte ich so viel lernen! Ich komme einfach nicht vorwärts.«
»Vielleicht war er ja wirklich überfordert mit dir.«
Jacques-Joseph wußte, daß sein Bruder ein Sonderling war: Zwar hatte der Junge die beengten Verhältnisse in Figeac hinter sich gelassen, doch auch in Grenoble lebte er fast völlig isoliert. Seine Frühreife, sein teils verschlossenes, teils enthusiastisch-aufbrausendes Wesen und seine völlige Unerfahrenheit im Umgang mit Menschen, das alles besaß etwas Rührendes und zugleich Beängstigendes. Jean-François mußte mit seinesgleichen, wenn es so etwas in Grenoble überhaupt gab, zusammengebracht werden, und Jacques-Joseph war froh, einen Weg gefunden zu haben. Eigentlich hatte er dem Bruder die gute Nachricht sofort mitteilen wollen, doch die zerpflückten Bücher waren dazwischengekommen. Nun zögerte er die Verkündung mit heimlicher Freude noch etwas hinaus.
»Was genau möchtest du denn lernen?« erkundigte er sich wie beiläufig.
»Das hast du mich schon so oft gefragt«, erwiderte Jean-François. »Am liebsten alle Sprachen der Welt!«
»Und warum?«
»Weil ich die Ursprache finden will, aus der alle anderen hervorgegangen sind.«
»Wenn es eine solche Sprache überhaupt gegeben hat.«
»Ich glaube fest daran.«
»Und deshalb lernst du jetzt Hebräisch? Weil angeblich im Paradies Hebräisch gesprochen wurde?«
Jean-François rümpfte die Nase. »Paradies, so ein Unsinn! Aber die biblische Geschichte von der Sprachverwirrung finde ich faszinierend, denn einmal müssen die Menschen eine gemeinsame Ursprache geredet und sich alle verstanden haben. Ich meine, das ist doch möglich, oder?«
Jacques-Joseph zuckte mit der Schulter.
»Ich habe bis jetzt vier Sprachen gelernt«, fuhr sein Bruder fort, »Latein, Griechisch, Hebräisch und unsere eigene. Ist es nicht erstaunlich, daß diese Sprachen, so verschieden sie klingen, miteinander verwandt sind? Sie bestehen alle aus einem ziemlich gleichen Bestand an Lauten oder Buchstaben, wenn man mal von den hebräischen Kehllauten absieht.«
»Du urteilst vorschnell. Hebräisch hat wohl nicht viel mit den lateinisch geprägten Mundarten zu schaffen. Alle Menschen sind gleich, haben die Enzyklopädisten gelehrt, alle Menschen formen mit der Zunge Worte, und des Menschen Rede wird immer überall ähnlich klingen, verglichen mit Eselsgeschrei oder Gänsegeschnatter.«
»Aber vielleicht klang sie einstmals überall vollkommen gleich! Um das festzustellen, muß ich alle toten Sprachen der Welt lernen. Dann könnte ich feststellen, ob es, wie bei einem Stammbaum, einen gemeinsamen Ursprung gibt.«
»Das ist ein beachtliches Ziel, mein Lieber. Was aber, wenn diese Ursprache – nehmen wir mal an, es gab eine – nur geredet, jedoch niemals geschrieben wurde? Verba volent, scripta manent: Die Worte sind flüchtig, nur das Geschriebene bleibt. Immerhin hat der Mensch schon lange vor der Erfindung der Schrift gesprochen.«
»Daran habe ich schon gedacht«, erwiderte Jean-François nachdenklich. »Ich rede natürlich nur von den geschriebenen Sprachen. – Und wenn die Hieroglyphen die Ursprache sind?«
Jacques-Joseph lächelte. »Eine solche Theorie existiert in der Tat. Wenn man näher hinsieht, beruht sie jedoch aufeinem Irrtum. Rein verstandesmäßig betrachtet, sind Buchstaben eine späte Erfindung. Zuerst hat man wohl in Bildern geschrieben, also eher gemalt. Der Satz ›Ein Mann tötet einen Löwen‹ läßt sich ja leicht und allgemeinverständlich zeichnen. Auch abstraktere Sätze, etwa: ›Der Mann glaubt an Gott‹, lassen sich darstellen, zum Beispiel mit einem Knieenden, der anbetend die Arme erhoben hält. Jeder, der ein solches Bild sieht, kann es verstehen, aber er versteht es in seiner jeweiligen Landessprache, in der er ja auch denkt. Das ist der Irrtum, den ich meinte: Diese Universalsprache wäre gar keine …«
»Sondern eine Art symbolischer Kommunikation wie die Botschaft der Skythen an Dareios?«
»Ja, aber die
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