Der Ramses-Code
ursprünglichen Sprachen der einzelnen Völker gingen dieser allgemeinverständlichen Mitteilungsform zeitlich voraus, ob sie nun eine eigene Schrift besaßen oder nicht.«
Jean-François leuchtete die Erklärung zwar ein, aber sie paßte ihm nicht. »Platon zufolge hat der Ägyptergott Theuth oder Thot die Schrift erfunden«, gab er leise zu bedenken.
»Aber nicht die Sprache – und die Schrift vielleicht nur in diesem Teil der Welt. Im übrigen scheint es mir sehr zweifelhaft, ob die ägyptischen Hieroglyphen so beschaffen sind, daß sie außer den Ägyptern noch irgendwer sonst lesen konnte.«
Jacques-Joseph erhob sich. »Übrigens habe ich zwei gute Nachrichten für dich. Abbé Dussert nimmt dich in seine Privatschule auf!«
»Was?« Die Augen des Elfjährigen leuchteten auf, so wie nur seine Augen aufleuchten konnten und wie Jacques-Joseph es liebte, weil aus diesem Blick eine Begeisterung sprach, die ihn faszinierte und für deren Lenkung er sich verantwortlich fühlte. Im Grunde litt der Ältere unter der ungestillten Wißbegier seines Bruders mehr als dieser selbst.
»Das ist die beste Neuigkeit, die ich mir vorstellen kann«, jubelte Jean-François. »Da wird die zweite – du hast ja zwei Neuigkeiten angekündigt – kaum mithalten können.«
»Abwarten, mein Lieber. Die Stadtoberen geben in dreiTagen ein Fest zu Ehren Fouriers. Es sind an die dreihundert Gäste geladen.«
»Ach ja?«
»Und einer davon wirst du sein.«
Jacques-Joseph genoß sichtlich den fassungslosen Ausdruck, der sich auf dem Gesicht des Knaben ausbreitete.
»Ich?« Mehr als ein Piepsen brachte er nicht zustande. »Ich?« wiederholte er.
»Ja, du. Du wirst das Durchschnittsalter der Veranstaltung gewaltig senken.« Jacques-Joseph lachte.
»Du verkohlst mich!«
»Nicht im mindesten. Ich habe sowohl Renauldon als auch den Abbé gefragt. Du mußt natürlich höflich zu den Damen sein und dich beim Champagner zurückhalten.«
Da machte der Knabe seinem Kosenamen alle Ehre, fuhr empor, sprang den Bruder wie eine Raubkatze an und fiel ihm, einen Jubelschrei ausstoßend, um den Hals. »Du bist der beste Bruder, den es gibt! Das vergesse ich dir nie!«
»Langsam, Lion, langsam, du erdrückst mich ja«, ächzte der Ältere. Jean-François ließ von ihm ab.
»Aber was ziehe ich an? Ich war noch nie auf einem Fest!«
»Keine Sorge, da finden wir schon etwas. So schlecht bezahlt mich Mutters Oheim nicht, daß wir beide wie Landstreicher dort aufkreuzen müßten«, versicherte Jacques-Joseph und ließ einen neuerlich Jubelanfall seines Bruders mit stiller Genutuung über sich ergehen.
5
Es war das erste große Fest in Grenoble seit dem Dahinscheiden des feierfreudigen Ancien Régime. Der Zeitgeist revolutionärer Umstürze und die republikanischen Tugendwächter waren solchen Lustbarkeiten feindlich gesonnen. Derart entwöhnt, strömten nun die Gäste und auch einige ungeladene Schaulustige erwartungsfroh zum festlich illuminierten »Hôtel des Trois Dauphins«, Grenobles vornehmster Adresse. Die Maiensonne hatte sich hinter die schneebedecktenBerggipfel zurückgezogen und hinterließ ein beeindruckendes Abendglühen am Horizont, mit dem die Lichter des noblen Gasthofs am historischen Jardin de Ville wetteiferten, um von Minute zu Minute siegreicher aus der Konkurrenz mit dem schwindenden Gestirn hervorzugehen. Livriertes Personal empfing die Gäste. Hin und wieder kamen Kutschen vorgefahren, denen Herren in dunklen Röcken, von herausgeputzten Damen begleitet, entstiegen, um daraufhin gemessenen Schrittes ins Lichtermeer des Foyers zu entschwinden.
Jacques-Joseph hatte sein Versprechen eingelöst und für den Bruder einen Anzug erstanden, der wohl in den Revolutionswirren seinen Besitzer verloren haben mochte. Jedenfalls hing das gute Stück so gut wie ungetragen bei einem Kleiderhändler, und nun trug Jean-François eine etwas zu weite beigefarbene Hose mit passender Weste und darüber einen dunkelblauen Gehrock.
Die Brüder schlängelten sich durch die Schaulustigen, Jacques-Joseph präsentierte einem Bediensteten die Einladungen. Die Erregung des Jüngeren steigerte sich bis zum Herzrasen, als er den mit Blumen und Girlanden geschmückten Eingangssaal durchschritt und die eleganten Leute sah (zumindest hielt er sie für elegant – ein Mitglied der Pariser Hautevolee hätte vielleicht die Nase gerümpft). Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Etwas linkisch hielt er sich an der Seite des Älteren, der hin und wieder
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