Der Ramses-Code
den Freuden des orientalischen Harems und von französischen Soldaten, die sich in den eroberten Ortschaften bei den dort ansässigen Frauen selbst bedienten, wobei sich manche dieser offenbar moralisch tiefstehenden Geschöpfe sogar freiwillig hingegeben hätten. Was das im Detail bedeutete, war Jean-François, trotz aller Ovid-Lektüre, nicht vollends klar; er vermutete, daß es mit Gefühlen zusammenhing, wie sie vor wenigen Augenblicken der Anblick eines bestimmten Dekolletés in ihm hervorgerufen hatte. Diese Gefühle empfand er als etwas überaus Zartes, Geheimnisvolles, aber das paßte nicht recht zur Vorstellung einer schwitzenden, nach Pulverdampf und Blut riechenden Truppe, die sich über die Weiber eines Dorfes hermachte. Doch auch in der feinen Abendgesellschaft kam man mit aller Kraßheit zur Sache.
»Sie haben geschrieben, verehrter Denon, dortzulande sei Wollust die Hauptpflicht der Frauen«, ließ sich die Gattin des Bürgermeisters vernehmen, was dem neben ihr stehenden Renauldon ein säuerliches Lächeln ins Gesicht trieb. »Können Sie das näher erklären?«
»Aber gewiß doch, Madame«, erwiderte der Angesprochene mit einer Gelassenheit, die demonstrierte, daß dergleichen Fragen vielleicht einen Provinzler in Verlegenheit bringen mochten, aber nicht ihn, den Mann von Welt. Derweil sich die Gesichter der ihn umdrängenden Damen und selbst einiger Herren röteten, erzählte er, daß sich die Haremsfrauen den lieben langen Tag nur all jenen Dingen zu widmen hätten, mit denen sie des Nachts ihre Gebieter verwöhnen dürften, daß sie sich also ausschließlich in Tanz, Gesang, Grazie übten und ansonsten ganz der Körperpflege hingaben. »Im Morgenland«, rief er und hob dabei die Hände inSchulterhöhe, als wollte er andeuten, daß er ganz und gar unschuldig daran sei, was dort so passiere, »im Morgenland verhindern eine Unzahl von Vergnügen und die schlaffe Gemütsart der Einheimischen jede unnütze Leibesbewegung. Und dazu«, fuhr er flüsternd fort, »denken Sie sich noch die Genüsse der Vielweiberehe – o lala!« Die Herren schmunzelten süffisant.
Nun erinnerte eine Dame – sie mochte Anfang Dreißig sein, war übermäßig hager, und ihr Gesicht stand in erhitzter Röte –, an eine Passage des Buches, wo der Autor beschrieb, wie er auf der Nil-Insel Philae ein kleines, sieben- oder achtjähriges Mädchen gefunden hatte, dem man, nun ja – die Hagere unterdrückte ein Kichern –, dem man also mit schändlicher Brutalität gewisse Körperöffnungen vernäht hatte, so daß es den dringendsten Bedürfnissen der Natur nicht mehr Genüge tun konnte. Jean-François fand die Frage höchst anstößig. Konnten diese Leute einen Gast vom Schlage Denons nicht nach gescheiteren Dingen fragen als nach den Bestialitäten der Morgenländer?
Mit diesem Unwillen stand er allein, wie er sich überzeugen konnte, als er in die lüsternen Gesichter der anderen blickte.
»Und Sie sagen, das Kind war – zugenäht?« fragte die Rotgesichtige.
»In der Tat, Madame, auf die blutrünstigste Weise«, bestätigte Denon.
»Auf – beiden Seiten?«
Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte der unverzagte Plauderer: »Nein, Madame, nur auf der vorderen.«
Plötzlich kam Unruhe in der Runde auf, denn jemand hatte den jugendlichen Zuhörer entdeckt. Man stieß sich gegenseitig an, auf einigen Gesichtern breitete sich Verlegenheit aus. Was dieser Junge hier suche, hörte er fragen. Alle sahen ihn an.
Jean-François machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Gesindel, dachte er, frivoles Gesindel! Ich bin eben nur ein halbes Kind, das sich in den Ecken herumdrücken und das dumme Geschwätz der Erwachsenenanhören muß. Ich kann nicht einfach fragen: Herr Denon, erzählen Sie mir doch etwas über den Tempel von Dendera. Wie demütigend das ist. Wäre ich doch bloß daheim geblieben!
Auf der Stelle wollte er dem Bruder seine Empörung mitteilen, aber Jacques-Joseph widmete sich momentan auch nicht der Altertumskunde. Der Bruder stand auf demselben Platz im Foyer, wo er ihn verlassen hatte, und unterhielt sich anregt mit zwei Damen, anscheinend Mutter und Tochter. Jean-François zügelte seine Erregung. Da er für diesen Abend von Frauen genug hatte, stellte er sich auf die gegenüberliegende Seite des Eingangssaales und beobachtete die drei. Dabei fiel ihm plötzlich auf, daß Jacques-Joseph, der Bruder und Mentor, ja ein Mann im, wie man zu sagen pflegte, besten Alter war! Er zählte 23 Jahre, hatte
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