Der Ramses-Code
glaube es mir. Jedem Franzosen steht wie ein Kainsmal auf der Stirn geschrieben, wie weit entfernt von Paris er lebt.«
Bürgermeister Renauldon erschien auf der Bildfläche. »Bürger Denon«, sagte er, »darf ich Sie vielleicht bitten …«
»Einen Moment noch!« versetzte dieser und wandte sich wieder an Jean-François, während sich Fourier zu Renauldon gesellte. »Der Blick eines Zeichners sieht viel, und du machst mir den Eindruck, als könnte etwas aus dir werden. Also, wenn du in Paris bist, hier ist meine Adresse. Melde dich vorher an. Und wenn du dich dann immer noch für Ägypten begeisterst, ich hätte einige interessante Zeichnungen für dich. Die meisten werden aber ohnehin in der ›Description de l’Egypte‹ erscheinen – ich nehme an, du hast von diesem wissenschaftlichen Projekt gehört?«
Jean-François nickte und nahm die Karte in Empfang. Denon wollte gehen, verharrte aber noch einmal kurz. »Wie war gleich dein Name?«
»Champollion, Jean-François Champollion.«
»Oh, eine Mischung aus Champagner und Napoleon! Das läßt sich behalten. Ja dann, mein Junge, viel Erfolg!« Mit diesen Worten wandte Denon sich ab. »Was gibt es, mein lieber Renauldon?« fragte er, und gemeinsam mit Fourier folgte er dem Bürgermeister, der ihn mit einigen Herren bekannt machte.
Kaum war der umworbene Mann verschwunden, stand Jacques-Joseph bei seinem Bruder. »Worüber hast du denn mit Denon gesprochen?« fragte er erstaunt.
»Ach weißt du, heute ist mein Glückstag«, erwiderte Jean-François. »Anfangs sah es gar nicht danach aus, aber dann … Wer ist denn die junge Frau, mit der du vorhin gescherzt hast?«
»Oh, das hat nichts zu bedeuten«, erwiderte Jacques-Joseph etwas verlegen.
Jean-François nickte still vor sich hin.
Später, als die beiden zu ihrer Pension in die Rue Neuve liefen, sagte er: »Bruderherz, ich habe eine Vision. Willst du sie hören?«
»Na los.«
»Ich werde demnächst nach Paris gehen, und du wirst dich verheiraten.«
Und nun war es Jacques-Joseph, der nichts dazu äußerte.
6
An einem nebligen Novembermorgen des Jahres 1802 verließ Baron Ravenglass sein Haus am Grosvenor Place und machte sich auf den Weg zum Foreign Office nach Westminster. Diese Strecke – er brauchte, wenn er eilig ausschritt, etwa zwanzig Minuten – ging er morgens immer zu Fuß, sommers wie winters und egal, wie das Wetter sich anließ. Mit hochgeschlagenem Kragen, den Dreispitz ins Gesicht gezogen, in tiefes Sinnen versunken, durchquerte er Queen’s Garden, dessen Baumwipfel im Nebel staken.
Vor zwei Tagen hatte er den Dreisprachenstein wieder gesehen,diesmal im British Museum, wo ihn neuerdings eine maulaufsperrende Öffentlichkeit beäugen durfte. Vorher hatte ihn die Londoner Society of Antiquaries bewahrt, dem breiten Publikum unzugänglich, was dem Baron besser gefiel, denn in gewisser Weise empfand er diesen Stein als sein Kind, und es paßte ihm gar nicht, daß ihn nun alle Welt anstarrte. Ravenglass, der inzwischen selbst eine ausgezeichnete Kopie des Fundstückes besaß, hatte bereits im Frühsommer angeregt, daß die Society of Antiquaries Gipsabgüsse anfertigte und den renommiertesten Universitäten des Königreichs – Oxford, Cambridge, Edinburgh und dem Trinity College in Dublin – zur Verfügung stellte. Er hatte erwartet, daß sich die besten Gelehrten über die Kopien hermachen und das Geheimnis der Inschriften enträtseln würden, er hatte mit einer Welle akademischer Publikationen gerechnet – aber nichts dergleichen war geschehen.
Ravenglass wußte den Grund. Silvestre de Sacy, Europas führender Orientalist, hatte in einem offenen Brief an Innenminister Chaptal geschrieben – die übliche Art französischer Gelehrter, ihre Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit mitzuteilen –, daß er sich außerstande erkläre, auch nur eine der beiden altägyptischen Schriften auf dem Stein zu lesen. Wohl habe er einige Eigennamen im demotischen Teil identifizieren (aber nicht lesen) können, doch mehr könne er nicht leisten. Sacy! Wenn der es nicht schaffte, hatte Ravenglass einige Oxford-Professoren munkeln hören, wer dann?
Im Grunde war der Baron den Franzosen inzwischen dankbar, daß sie das Tor nach Ägypten aufgestoßen hatten, zu jenem Land, das Jahrhunderte unberührt gelegen hatte und nun, da der kontinentale Gegner abgezogen war, seine Altertümer dem Inselreich darbot. Und er war eigentlich auch sehr zufrieden damit, daß Frankreichs bedeutendster Kopf genauso vor
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