Der Ramses-Code
Gelbauge ist verrückt. Er bemalt seine Hefte mit Gänsen und Löwenköpfen.«
In diesem Moment kehrte Jean-François in die Klasse zurück. Wütend stürmte er auf den Schnüffler zu und herrschte ihn an: »Gib mir mein Heft wieder!«
»Hol’s dir doch, Löwenkopfmaler!« höhnte Pascal und hielt das Streitobjekt über seinen Kopf. »Du traust dich ja doch nicht! Erzähl uns lieber, warum du diesen Kinderkram in deine Hefte malst. Nuckelst du auch noch am Daumen? Antworte, du gelbäugiger Spinner!«
Jean-François sah das triumphierende Grinsen des Größeren, sah die Gesichter der anderen in erwartungsvoller Spannung, spürte, wie eine unerträgliche Hitze in ihm emporstieg – und schlug einfach zu. Da der andere die Arme hochhielt, bot er den Bauch als Ziel dar, und dort trafen ihn mehrere Schläge. Der Angegriffene ließ seine Beute los und versuchte, seinen Körper zu schützen; promt beendete Jean-François die Attacke und griff nach dem am Boden liegenden Heft, doch ehe er es zu fassen bekam, hatte sich Pascal, wütend vor Schmerz, auf ihn geworfen, so daß sich nun ein Knäuel aus zwei Halbwüchsigen schnaufend und aufeinander einschlagend am Boden wälzte.
Der Abbé beendete die Rauferei, allerdings nicht wie sonst durch sein bloßes Erscheinen: Er mußte kräftig zupacken und seine dröhnende Stimme zu Hilfe nehmen, um die Kampfhähne zu trennen. Keuchend standen sich die beiden gegenüber. Jean-François sah mitgenommener aus als sein Kontrahent, Blut lief ihm aus beiden Nasenlöchern, die Oberlippe war aufgeplatzt, das Hemd zerrissen – aber er hielt sein Notizheft in den Händen.
»Er hat angefangen«, maulte Pascal, dessen linkes Auge zuzuschwellen begann.
»Schweig!« befahl Dussert. »Was hier im Detail vorgefallen ist, interessiert mich nicht. Wenn es sich wiederholt, meine Herren, könnt ihr euch eine andere Schule suchen. Hier herrscht Disziplin, verstanden?«
Die beiden nickten.
»Du kannst dich waschen gehen, Champollion«, sagte Dussert. »Und du troll dich auf deinen Platz«, beschied er den Sohn des Obristen eine Nuance lauter. »Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, daß ein Schwächerer einen Stärkeren einfach so angreift. Hüte dich, Bursche!«
»Es war gut, daß du dir nichts gefallen lassen hast«, sagte Jacques-Joseph, als ihm der Bruder am Abend von dem Vorfall berichtete.
»Es kam einfach so über mich. In Wirklichkeit hatte ich nämlich Angst vor ihm. Ich hoffe nur, daß er mich künftig in Ruhe läßt.«
»Eben weil du dich gewehrt hast, wird er dich in Ruhe lassen.«
Jacques-Joseph behielt recht. Das Ergebnis der Prügelei war ein dauerhafter Waffenstillstand: Pascal ignorierte den Neuen fortan wie dieser ihn sowieso. Er nannte ihn auch nicht mehr Gelbauge. Er konnte sich zwar immer noch mit Recht für den Stärkeren halten, aber das zugeschwollene Auge und die schmerzenden Bauchmuskeln waren ihm eine Lehre. Mit diesem komischen Kauz war nicht zu spaßen: Er kuschte nicht.
Jean-François war viel zu glücklich, daß sein Kopf mit Arbeit versorgt wurde, als daß er länger über den Zwischenfallnachgegrübelt hätte. Des Abends vertiefte er sich in seine historischen Studien, von denen sich eine der Herkunft der ältesten Völker widmete, eine andere den Titel »Geschichte berühmter Hunde« trug und mit Argos, dem treuen Hofhüter des Odysseus, begann. Sein Lieblingsthema aber blieb Ägypten. Nachdem er sämtliche Texte der Griechen und Römer, die vom Pharaonenland handelten, so gut wie auswendig wußte, durchstöberte er mit Jacques-Josephs Hilfe die späteren Jahrhunderte nach Zeugnissen. Der Bruder beschaffte ihm beispielsweise die 1646 erschienene »Pyramidographia« des englischen Ägyptenreisenden John Greaves, der im 17. Jahrhundert am Nil forschte und als erster Europäer in das Innere der Großen Pyramide eindrang, von der er exakte Skizzen anfertigte, sowie die Schriften des deutschen Jesuiten und Renaissance-Gelehrten Athanasius Kircher, der als bester Ägyptenkenner des 17. Jahrhunderts galt und die Hieroglyphen als göttliche Symbolsprache auslegte, in der das Nilvolk seine großen Mysterien verewigt habe. Am meisten aber faszinierten ihn die Ägypten-Schilderungen des Deutschen Carsten Niebuhr und des Dänen Georg Zoëga, denn diese beiden Forschungsreisenden hatten ihr besonderes Augenmerk auf die rätselhafte Schrift der Ägypter gerichtet. Auf Niebuhrs Zeichnungen erblickte der Junge erstmals Hieroglyphen, und in Zoëgas Buch »Vom Ursprung und
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