Der Ramses-Code
Sinn der Obelisken« beeindruckte ihn vor allem die Vermutung des Autors, in den Ovalen, die manche Hieroglyphengruppen umgaben, könnten sich die Namen der Pharaonen verbergen.
Seine Begeisterung für diese Zeichen war Anlaß einer ernsten Rüge von seiten des Abbé: Hatte Dussert noch toleriert, daß sein Schüler mitunter statt der behandelten Vokabeln geistesabwesend die Namen aller ihm bekannten altägyptischen Herrscher in seine Kladde schrieb, mußte er ihn doch maßregeln, als er eines Tages den Tisch mit Hieroglyphen bemalt vorfand. »Ich sage doch: Er ist verrückt«, flüsterte Pascal seinem Banknachbarn zu, allerdings so leise, daß der von Dussert Gerügte es nicht hören konnte.
Wenn Jacques-Joseph abends heimkam, traf er den Jüngeren über den Büchern und ließ sich über seine Fortschrittebeim Erlernen der semitischen Sprachen berichten. Dann lasen beide zusammen oder diskutierten, was die Zeitungen zur politischen Lage schrieben. Jacques-Joseph war ein glühender Anhänger des Ersten Konsuls, er pries ihn als militärisches Genie, das der Republik, die jahrelang von inneren Umstürzen geschüttelt und von den umliegenden Monarchien bedroht worden war, Stabilität und Frieden zurückgegeben habe. Jean-François hörte sich diese Elogen meist kommentarlos an. Er war skeptisch. Warum? Nun, weil ihm der Abbé erklärt hatte, daß der Erste Konsul kein Freund der schöngeistigen Wissenschaften sei, schon gar nicht der Altertumskunde, ausgenommen, sie präsentiere sich im Gewande einer Geschichte der Kriegskunst. Ein andermal hatte der Junge eine Unterhaltung zweier Lehrer mitgehört, die über ein Dekret Bonapartes sprachen, das die Einrichtung von Lyzeen – Jungen-Internaten mit strenger militärischer Disziplin – befahl. »Ob das die Zukunft unserer Bildungsanstalten ist, daß man die Knaben kaserniert, frühzeitig im Waffengebrauch unterweist und auf alle militärisch nutzlosen Fächer verzichtet?« hatte der eine gefragt.
»Die Tage, wo Gottes Wille und die Freiheit des Volkes Ideal der Gesetzgeber waren, sind vorbei. Inzwischen ist nur noch Bonapartes Wille maßgebend«, lautete die düstere Antwort.
Der Winter kündigte sich an, die Alpen reckten in der klaren Oktoberluft ihre mehr als 3 000 Meter hohen Gipfel herrlicher denn je in den Himmel – ein Anblick, den Jean-François in Briefen an die Familie zu preisen nicht müde wurde –, da ließ ihm der Präfekt über den Bruder ausrichten, daß er ihn am kommenden Tag, unmittelbar nach dem Abendessen, empfangen werde. Vor Aufregung konnte Jean-François die halbe Nacht nicht schlafen. Im Unterricht war er unkonzentriert wie nie zuvor. Endlich nahte der Abend.
Jacques-Joseph begleitete den Bruder zur Präfektur – Fourier hatte bislang noch keine Zeit gefunden, sich nach einem angemessenen Haus umzuschauen, und so bewohnte er die Etage über seinen Amtsräumen. Ein schwarzgekleideterBediensteter, der wichtigen Miene nach eine Art Sekretär, führte den Elfjährigen zum Büro des Präfekten. Bevor er anklopfen konnte, tat sich die Flügeltür von selber auf und Fourier trat heraus.
»Champollion der Jüngere, Hieroglyphenfreund und Sprachengenie!« begrüßte er den Jungen. »So finden wir doch endlich einmal die Zeit für eine kurze Besichtigung meiner bescheidenen ägyptischen Sammlung. Ich fürchte jetzt beinahe, du erhoffst dir zuviel. Wie geht’s in der Schule? Der Abbé, höre ich, ist des Lobes voll über dich?«
Jean-François verspürte wieder jene leichte Lähmung, die ihn bereits damals befallen hatte, als er dem stämmigen Mann vor die Füße gefallen war. Kleinlaut antwortete er: »In der Schule geht es gut, danke.«
»Sehr schön. Dann wollen wir mal nach oben gehen.«
Fourier entließ den Bediensteten, schritt voran die Treppe hinauf und führte den Gast in sein privates Arbeitszimmer, in dem bereits mehrere Leuchter brannten, während ein runder Kachelofen seine Wärme verströmte. Hier wimmelte es von physikalischen Gerätschaften – Barometern, Hygrometern, Thermometern, Stativen, Glaskolben, Meßbechern, Schläuchen. Von ägyptischen Altertümern keine Spur! Fragend sah Jean-François den Präfekten an.
»Langsam, langsam«, sagte Fourier lachend, »was du suchst, befindet sich hinter dieser Tür!« Und er deutete auf eine kleine Flügeltür an der hinteren Stirnseite des Zimmers. Dann nahm er einen der Leuchter und ging seinem Besucher voran.
Es war ein relativ kleiner Raum, den die Kerzen fast zur Gänze
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