Der Ramses-Code
Tollhaus, dachte er, ein vieltausendköpfiger Moloch, der den einzelnen verschlingt. Hier sollte er die Ruhe finden, das Pharaonenreich zum Sprechen zu bringen?
Die Kutsche erreichte das Seine-Ufer, und der Ankömmling erblickte erstmals das helle Seegrün des Flusses, der sich, beidseitig von hohen Mauern eingezwängt, durch die Metropole schlängelte und auf dem Lastkähne dahinglitten. Auch auf den Quais wimmelte es von Menschen.
An der Poststation stiegen das Tuchhändlerehepaar und der Rittmeister aus. Gegen ein in Aussicht gestelltes kleines Trinkgeld fuhr der Kutscher die drei übrigen Insassen bis in die Rue de l’Echelle St. Honoré, wo, ganz in der Nähe des Louvre, François de Cambry wohnte, der Präsident der keltischen Akademie, ein Bekannter Fouriers, der sich erboten hatte, das Neumitglied des Collège zu beherbergen. Cambry kam gleich auf die Straße gelaufen, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen. Er war ein hagerer Mann schwer schätzbaren Alters, tatsächlich Mitte Vierzig, mit abgezehrten Gesichtszügen und fanatisch glänzenden wasserblauen Augen. Der Keltenforscher erkundigte sich nach dem Grad der Reisestrapazen, beantwortete seine Frage aber sofort selbst, indem er auf den Zustand der Straßen im allgemeinen und auf Kutschfahrten im speziellen schimpfte. Gleichzeitig half er eifrig beim Ausladen des Gepäcks, hielt aber plötzlich inne und stützte sich, als ob ihm schwindelte, an der Kutsche ab.
»Geht es Ihnen nicht gut?« fragte Jacques-Joseph. »Brauchen Sie Hilfe?«
Cambry schnaufte und schüttelte den Kopf. »Es ist alles in Ordnung, danke«, keuchte er. Dann rappelte er sich auf, ergriff einen Koffer und eilte mit der Aufforderung, seine Gäste mögen ihm folgen, in den Torweg, der zum Hauseingang führte.
Die Mehrzahl der Häuser in den vornehmeren Straßen von Paris besaß Torwege, womit sie sich schon beim Betretenvon den anderen, weniger luxuriösen unterschieden, in deren dunkle Treppenflure man direkt von der Straße gelangte. In den Torwegen hatten die Pförtner ihre Wohnungen, kleine, enge, meist etwas feuchte Löcher, von wo sie ihr Wächteramt ausübten und jeden kontrollierten, der hineinwollte oder hinausging. Die Pförtnerin, eine rundliche, Sonnenblumenkerne kauende Alte, steckte den Kopf aus ihrem Fenster am Ende des Ganges und rief mit schriller Stimme: »Monsieur Cambry, bekommen Sie Besuch? Die Herrschaften sollen sich bitteschön bei mir melden!«
»Madame Grenouille, keine Sorge, wir kommen sofort zu Ihnen«, antwortete der Professor. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen neigte er sich zu Jean-François und raunte: »Unsere Drachin. Sie bewacht meine Höhle.«
Dann klärte er die gestrenge Alte darüber auf, daß der Besuch drei Personen umfasse, zwei Herren und eine Dame.
»Eine verheiratete Dame?« fragte die Drachin streng.
»Jawohl, Madame, verheiratet.«
»Mit einem der anwesenden Herren?«
»Es geht Sie zwar nichts an, meine Teuerste, aber es ist der Fall.«
»Es geht mich durchaus etwas an, denn was würde ich sagen, wenn ihr Gemahl nicht dabei wäre, aber später hier auftauchte und nach seiner Frau suchte? Sage ich: Sie ist hier im Haus, oder sage ich es nicht? Das sind wichtige Fragen, und Sie sollten achtgeben, daß ich in einem solchen Fall weiß, was ich zu sagen habe.«
»Nun gut, meine Liebe, aber Frau Champollion hat ihren Gatten gottlob gleich mitgebracht …«
»Ihre Gäste heißen Champollion? Alle drei? Wie lange werden sie bleiben?«
»Monsieur Champollion der Jüngere, dieser junge Mann hier, wird eine Weile bei mir wohnen. Die beiden anderen Gäste verlassen uns noch heute wieder. Sind Sie fürs erste zufrieden?«
Die Wächterin warf einen prüfenden Blick auf den in Aussicht gestellten Hausgast und fragte: »Sind Sie Franzose?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Jean-François. »Warum?«
»Ihrem Aussehen nach könnten Sie ein Orientale sein, ein Araber vielleicht. Monsieur Cambry, ich weiß, was ich wissen muß.« Damit zog sie ihren Kopf wieder ins Dunkel ihrer Loge zurück und warf eine neue Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund.
Cambry lebte allein. Von seinen vier Zimmern nutzte er im Grunde nur zwei, nämlich als Arbeits- und Schlafzimmer, weshalb er ohne Probleme eines zur Untermiete abgeben konnte. Der Gelehrte war froh über den jugendlichen Langzeitgast, denn außer der Zugehfrau, die dreimal die Woche kam und den Haushalt besorgte, sah er selten Besucher. Seine Frau hatte ihn vor mehreren Jahren mit einem
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