Der Ramses-Code
jüngeren Verehrer hintergangen, wie er sogleich freimütig erzählte, als gelte es, die Menschenleere seiner Behausung zu begründen. Daraufhin habe er die für ihn einzig mögliche Konsequenz gezogen und seine Ehe gelöst. Die Augen des Keltenforschers wurden trübe, als er davon erzählte; offenbar hatte das damalige Geschehen einen Restschmerz zurückgelassen, den die Zeit nicht zu tilgen vermochte.
»Haben Sie Kinder?« erkundigte sich Frau Zoë.
»Zwei Söhne«, lautete die Antwort. »Keiner ist dem Vater gefolgt und hat sich der Wissenschaft verschrieben. Nein, beide wollten Soldaten werden. Der Ältere fiel bei Marengo – das ist nun schon sieben Jahre her –, der Jüngere dient bei den Dragonern.«
Der Professor verfiel nach dem kurzen Anflug von Melancholie gleich wieder in Betriebsamkeit. Er servierte seinen Gästen Kaffee, bot dazu Likör an, der dankend abgelehnt wurde, trank dann allein ein Gläschen und redete ohne Unterlaß. Er sprach von Paris und vom gelehrten Leben der Stadt, erkundigte sich nach Grenoble und Fourier, folgte zerstreut den Auskünften, die Jacques-Joseph auf seine Frage gab, und empfahl den Paris-Neulingen, sich als erstes die Cité anzusehen, jene kleine Seine-Insel im Herzen der Metropole, auf welcher die berühmte Kathedrale Notre-Dame, der Justizpalast und frühere Königssitz sowie eine Reihe weiterer historischer Gebäude standen und unter der man sich quasi die Keimzelle der Weltstadt vorzustellenhabe, denn mit der Besiedelung dieser Insel, die gleichsam eine natürliche Festung darstelle, habe alles angefangen, damals, vor 2000 Jahren, als die Parisier, ein Keltenstamm, sich am Orte niederließen.
Cambry hatte vor kurzem ein Buch über den Ackerbau der Kelten veröffentlicht, und ganz offensichtlich gehörte die Leidenschaft, die in den Augen des vereinsamten Professors glühte, in starkem Maße jenen Urahnen Frankreichs, über deren Lebensgewohnheiten er nun mit einer Ausführlichkeit berichtete, die an Unhöflichkeit grenzte. Er arbeite derzeit an einem zweiten Band seines Geschichtswerks, der sich mit der Kleidung der Gallier befasse, erklärte Cambry; danach werde er sich der Siedlungsweise und dem Hausbau zuwenden und, wenn seine Kräfte es zuließen, einen vierten Band dem Handwerk widmen. Im übrigen sei auch die Sprache der fränkischen Urstämme völlig unerforscht. – Hier hielt der hagere Mann plötzlich inne und blickte auf Jean-François. »Junger Freund«, rief er aus, »es heißt, Sie seien ein Anhänger und Erforscher der alten Sprachen. Ich biete Ihnen hiermit an, in die keltische Akademie einzutreten.«
O weh, dachte der Angesprochene (und dasselbe dachte sein Bruder), wie winde ich mich aus diesem Angebot hinaus, ohne ihn zu verstimmen? Laut sagte er: »Ich danke Ihnen vielmals – ich bin völlig überrascht – es wäre mir eine Ehre – leider sind Richtung und Ort meiner Studien bereits festgelegt. Mich zieht es mehr zu den orientalischen Mundarten …«
»Ich weiß. Ich hörte es. Sie wollen zu Sacy. Ach«, seufzte Cambry, »warum wollen die jungen Leute nur immer das Ferne ergründen statt des Naheliegenden? Sie müssen wissen, daß es der keltischen Akademie an Nachwuchs mangelt, ganz abgesehen davon, daß heutzutage in diesem Land der Nachwuchs ohnehin nur dafür geboren scheint, daß Napoleon ihn vor die Kanonen führt. Alle gelehrten Institute, die sich mit den Geistesdingen befassen, sind verwaist.«
»Ja, das ist eine traurige Entwicklung«, bestätigte Jacques-Joseph.
»Sehr traurig«, ergänzte Cambry. »Welche Sprachen lernen Sie denn – außer den üblichen?« wandte er sich an Jean-François.
Der zierte sich einen Moment und antwortete: »Außer den üblichen keine.«
»Von den toten Sprachen: Althebräisch?«
Jean-François nickte.
»Chaldäisch?«
Wieder ein Nicken.
»Phönizisch?«
Dieselbe Antwort.
»Persisch?«
»Auch.«
Der Professor war sichtlich erbaut und zugleich etwas verwirrt, denn er kannte diese Sprachen allesamt im Grunde nur dem Namen nach, weil sie eben zu jener Zeit in Nordafrika und Vorderasien gesprochen wurden, als seine geliebten Kelten auf der anderen Seite des Mittelmeeres umherzogen. »Nicht schlecht«, sagte er, »auch wenn ich bedaure, daß wir uns immer weiter von Gallien entfernen. Was ist mit den germanischen Sprachen: Deutsch oder Englisch?«
»Sie liegen mir nicht sonderlich. Ich spreche leidlich Englisch und kann es lesen.«
»Und Chinesisch?« fragte Cambry im Scherz.
»Ich habe
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