Der Ramses-Code
hinzugeben. Er schämte sich bei der Vorstellung, daß sie es bemerkt haben könnte. In die Scham mischte sich jedoch ein anderes, neues, untergründiges Gefühl, etwas Drängendes, Lüsternes, Explosives. Lag es an Paris? Hatte ihn die Haupstadt der Sünde und des Lasters schon am ersten Tag in ihren Bann geschlagen?
10
Der nächste Morgen sah die Brüder früh auf den Beinen. Für neun Uhr war ein Treffen anberaumt, das beiden, wenn auch in verschiedenem Grade, Herzklopfen bereitete: die Vorstellung des künftigen Studenten bei Silvestre de Sacy. Schon zwei Stunden vorher holte Jacques-Joseph den Jüngeren ab. Sie gingen in ein Kaffeehaus am Quai Voltaire, wo sie noch einmal Rat hielten, wie der Antrittsbesuch zu gestalten sei. Jean-François drängte darauf, Sacy seine Bitte um eine Anstellung in der kaiserlichen Bibliothek schon heute vorzutragen, denn er hatte es eilig, selbst Geld zu verdienen und sich nicht länger vom Bruder alimentieren zu lassen. Jacques-Joseph hielt dagegen, daß es unschicklich sei, den Lehrer gleich beim ersten Zusammentreffen mit Wünschen zu behelligen.
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte der Jüngere, »aber es stößt mich täglich, dir ständig auf der Tasche zu liegen. Ich werde in drei Monaten siebzehn; langsam sollte ich für mich selber sorgen.«
»Sei unbesorgt, und überstürze nichts«, entgegnete Jacques-Joseph. »Fürs Fianzielle will ich gern aufkommen. Wir sind zwar nicht gerade wohlhabend, und die Nachrichten von daheim klingen nicht sonderlich rosig, weil der Vater, wenn er so weitertrinkt und sein Geschäft vernachlässigt, am Ende noch Mutters Erbschaft durchbringt und die Familie ruiniert – «
»Steht es wirklich so schlimm daheim?« unterbrach ihn Jean-François. »Mir sagt ja niemand etwas.«
»Wozu sollst du dich damit belasten? Es steht jedenfalls nicht gut. Sie mußten schon einen Teil des Obstgartens verkaufen.«
»Und ich, anstatt von meiner Hände Arbeit zu leben und Mutter Geld zu schicken, will alte Steine lesen«, seufzte der angehende Student und spähte dabei auf eine an der Wand angebrachte Tafel, wo, mit bunter Kreide gemalt, die Preise für Kaffee, Wein und Süßspeisen ausgeschildert standen.
»Ich möchte nicht, daß du dir darüber Gedanken machst. Deine Aufgabe ist es, unseren Namen in die Annalen derWissenschaft einzuführen, und zwar so, daß er für immer dort bleibt.« Jacques-Joseph sah dem Bruder fest in die Augen und fuhr fort: »Du bist ein großes Talent, nutze, was dir beschieden ist, und werde ein Gelehrter, von dem Frankreich spricht, das wird Mutter, auch wenn sie nicht recht versteht, womit du dich beschäftigst, stolz und glücklich machen. Der Rest ist mein Teil, auch, was deinen Lebensunterhalt betrifft. Du mußt mir nur versprechen, daß du dich nicht von der Oberflächlichkeit und Amüsierlust dieser Stadt anstecken läßt.«
Der Jüngere nickte.
»Du bist nicht gemacht für Zerstreuung, sondern für Sammlung. Du mußt deine Geisteskräfte bündeln und weiter hart arbeiten. Paris ist eine lockende Versuchung. Gib ihr niemals nach! Wer weiß, wie viele Begabungen hier in den Tavernen und Hurenhäusern verkommen sind! Grenze dich ab davon! Vergeude nicht deine Gaben! Versprich es mir in die Hand!«
»Ich verspreche es!«
»Und ich«, sagte Jacques-Joseph eindringlich, »werde immer für dich da sein und tun, was in meinen Kräften steht. Das ist mein Versprechen.«
Die Brüder gaben einander die Hand. »Ach, mein Lieber«, rief Jean-François, und er mußte an sich halten, daß er dem Älteren nicht hier in aller Öffentlichkeit um den Hals fiel, »was wäre ich ohne dich! Die Altertumswissenschaft ist eine schöne Frau, und ihr Mann mag ein ganzes Leben Freude an ihr haben, aber leider kommt sie ohne Mitgift in die Ehe.«
»Das wird sich zeigen. Und nun laß uns zu Sacy gehen.«
Wenig später standen Lehrer und Schüler einander gegenüber. Noch war studienfreie Zeit; der Unterricht begann erst Anfang November, und Sacy arbeitete daheim. Jean-François war beeindruckt von der zartgliedrigen Häßlichkeit und abstoßenden Majestät des Gelehrten, der die Besucher freundlich willkommen hieß. Die Brüder begrüßten ihn respektvoll und mit gedämpfter Stimme, denn Sacy erschien ihnen wie ein Mensch, zu dem man aus Gründen der Schonung nichtlaut spricht. Über das durchgeistigte Gesicht des Professors wiederum huschte ein feines Lächeln, als er seines neuen Schülers ansichtig wurde. Ein Feuerkopf, dachte er,
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