Der Ramses-Code
eine Grammatik dabei«, lautete die Antwort, »aber ich beschäftige mich nur mit Syntax und Aufbau, sozusagen um das Wesen dieser Sprache zu verstehen. Natürlich fasziniert mich das Chinesische auch deshalb, weil es keine Buchstabenschrift ist, sondern die Chinesen eher – wenn ich so sagen darf – Hieroglyphen verwenden. Wie schreibt man beispielsweise mit einer Zeichen- oder Bilderschrift fremde Namen, die aus Buchstaben bestehen? Ich will wissen, wie ein Chinese ‚Champollion‘ schreiben würde – oder ein altägyptischer Schreiber den griechischen Namen ›Ptolemaios‹.«
»Und die Geschichte Ihrer Vorfahren interessiert Sie nicht?«
»Sie interessiert mich schon, aber – nun ja, sehen Sie, dieÄgypter besaßen schon eine Schrift, als an Kelten noch gar nicht zu denken war …«
Cambry runzelte die Stirn. »Ich sehe«, sagte er, »Sie haben Ihre Wahl getroffen. Es ist ja auch à la mode. Seit Napoleons Expeditionskorps aus dem Nilland zurückgekommen ist, herrscht hier die Ägyptomanie. Der Schreiner, der mit der Zeit gehen will, schraubt keine Beine mehr an seine Tische, sondern läßt sie auf geflügelten Sphingen stehen, die Schmuckhersteller kennen nur noch ein Motiv, nämlich den Skarabäus, und wenn man heutzutage einen Leuchter kauft, muß es eine Isis-Figur sein, die die Kerzen trägt. Wissen Sie, daß es in dieser Stadt mindestens 100 Leute gibt, die von sich behaupten, sie seien auf bestem Wege, die Hieroglyphen zu entziffern?«
Jean-François erbleichte.
»Ich dachte«, sagte Jacques-Joseph, »seit den Fehlversuchen von Sacy und Åkerblad hat man es aufgegeben.«
»Ja sicher«, antwortete der Professor. »Es sind auch nur Verrückte. Kein Mensch wird diese Zeichen jemals lesen.«
Das Gespräch wurde durch die Haushälterin unterbrochen, die ihren Dienst antrat und sich erkundigte, wann das Abendessen aufgetischt werden solle. Cambry, der so gut wie nie Besuch empfing, hatte zur Feier des Tages eine Gans vorbereiten und Wein einkaufen lassen. Nun galt es, derweil das Geflügel im Ofen brutzelte und die Haushälterin das Essen bereitete, einen Träger oder Karrenschieber zu organisieren, der das Gepäck der Eheleute in die ein paar Straßen entfernte Pension schaffte. Der Hausherr übernahm die Suche selbst und begleitete den Transport, während der neue Untermieter in der Wohnung zurückblieb, um seine Sachen auszupacken.
Als die drei zurückkehrten, dämmerte es bereits; die Lichter wurden angezündet, und wenig später kam die Gans auf den Tisch. Dazu gab es Gemüsebouillon und mehrere Flaschen Côte Rôtie, einen Rotwein aus dem Rhône-Tal, der zu den besten Frankreichs zählte, wie der Gastgeber versicherte. Es war der erste Wein, den Jean-François in seinem Leben trank, denn aus Abneigung gegen die Trunksucht undvor allem den daher rührenden säuerlichen Mundgeruch seines Vaters, den er aus Kindertagen noch in der Nase trug, hatte er den Rebensaft bislang verschmäht. Der starke, gerbstoffreiche Rote schmeckte ihm aber durchaus und stieg ihm in den Kopf.
Nach dem Braten servierte die Haushälterin Brot und Käse. Als alles verspeist war, räumte sie den Tisch ab. Jacques-Joseph und Frau Zoë verabschiedeten sich, um nun die nächtlichen Freuden ihrer Flitterwochen zu genießen. Der rotweinselige Jean-François war etwas neidisch auf den Bruder, denn seine Schwägerin gefiel ihm, namentlich an diesem Abend, wo sie ihm mit hochgestecktem Haar gegenüber saß. Sogar auf ihre Brüste, die sich unter ihrem Kleid abzeichneten, hatte er hin und wieder geschielt – länger, als ein Versehen es erlaubte – und dabei versucht, sich vorzustellen, wie die lockenden Rundungen wohl aussahen, wenn kein Kleidungsstück sie verhüllte, und wie sie sich anfühlen mochten. Verse aus Ovids »Liebeskunst«, in der er schon als Knabe mit glühenden Backen gelesen hatte, fielen ihm ein. »Finger finden gewiß, was zu tun ist in jenen Bereichen/Wo im geheimen Versteck Amor die Pfeile benetzt«, schrieb der Dichter, und: »Hast du die Gegend entdeckt, wo die Frau sich gern läßt berühren/Dann hinweg mit der Scham, stärker betaste sie da!«
Als er im Bett lag, kehrten die Gedanken wieder. Jean-François konnte sich nicht entsinnen, von dergleichen anstößigen Überlegungen heimgesucht worden zu sein, als er noch in Grenoble wohnte, obwohl er die schwarzlockige Frau dort auch täglich gesehen hatte, und er wußte, daß es unerlaubt war, sich frivolen Phantasien über die Gemahlin des Bruders
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