Der Ramses-Code
als mit Schreibfedern ausstattete.
Die barsche Antwort des Dragoners hatte den jungen Gelehrten verstimmt. Überhaupt war ihm durch die Anwesenheit des Militärs während der Fahrt klargeworden, daß er Napoleons eisernem Griff nicht entging, indem er das verhaßte Grenobler Lyzeum mit dem Collège de France vertauschte. Vielleicht hätte ich in Göttingen studieren sollen, überlegte er – aber auch dort standen die kaiserlichen Truppen. Selbstverständlich, sein Herz schlug für Frankreich wie das Herz eines jungen Franzosen nur für sein Vaterland schlagen konnte, und wenn die Stunde der Not käme, wenn, wie vor fünfzehn Jahren, fremde Armeen an seiner Grenze stünden, dann würde er es mit der Waffe verteidigen und Ägypten Ägypten sein lassen. Jean-François war kein Feigling. Aber für diesen Welteroberer fremde Länder unterjochen?
Er seufzte leise und erinnerte sich seines ersten großen wissenschaftlichen Triumphs. Wenige Tage vor der Abreise hatte er sich den Delphinaten präsentiert. Vom Akademiepräsidenten eingeführt, las er dem Gelehrtenverein seinen Exkurs über das pharaonische Ägypten vor und präsentierte den Versammelten eine von ihm entworfene historisch-geographische Karte des Pyramidenreiches. Text und Karte führte er mit sich als die ersten anerkannten Früchte seiner Studien, als Entree-Billett in die Gelehrtenwelt. Die Delphinaten hatten begeistert reagiert und ihn, den Sechzehnjährigen, zum ständigen Mitglied der Akademie ernannt. Unter dem Beifall der Anwesenden hatte Renauldon ausgerufen: »Indem die Akademie Sie, trotz Ihrer Jugend, zum Mitglied ernennt, hat sie das, was Sie bereits wissenschaftlich geleistet haben, im Auge, aber mehr noch das, was Sie in Zukunft zu leisten vermögen!«
Lautes Rattern riß ihn aus seinen Gedanken. Die Räder der Postkutsche rollten über Straßenpflaster. Die Veränderung des Geräuschpegels weckte die schlummernden Insassen. Jacques-Joseph streckte sich und fragte gähnend: »Sind wir endlich da?«
Jean-François blickte aus dem Fenster. Tatsächlich passierte ihr Gefährt soeben einen Schlagbaum, neben dem SoldatenWache standen, und fuhr durch ein Stadttor. Aber statt Pracht und Herrlichkeit empfing sie ein Gewirr schmutziger Straßen, von elenden Häusern gesäumt, zwischen denen sich Viehherden, zerlumpte Arbeiter und Lastkarren drängten. War das wirklich Paris?
Die Kutsche bog um eine Ecke, und mit einem Schlag verwandelte sich das Bild. Vor ihnen lag eine Lindenallee, umgeben von schönen Häusern. Das Gros der Häuser war sechsstöckig, höher und vor allem prächtiger als in Grenoble oder gar Figeac, und die vornehmeren prangten im strahlenden Weiß ihrer Kalksteinfassaden, daß es blendete.
Paris! Bis zu seiner Ankunft hatte Jean-François nicht so recht begriffen, was ihm bevorstand. Nun umschloß den Sechzehnjährigen das Gewimmel der Metropole, die sich auf der relativ kleinen Fläche von etwa vier Quadratkilometern zwischen drei Hügeln ausbreitete. In endloser Folge rumpelten Fuhrwerke und Kutschen über das Pflaster, die Straßen waren von Händlern gesäumt, die lauthals ihre Waren anpriesen, Kaffeehäuser und Tavernen lockten mit buntbeschrifteten Tafeln; an sie schlossen sich wieder Läden und Stände an: Gewürzkrämer, Tuchmacher, Möbelverkäufer, Parfümiers, Modesalons, Weinhändler, Obstweiber, Fischhändler, Metzger, Antiquare, Friseure; dazwischen standen Bajazzobuden, die noch geschlossen waren, auf denen man aber am Abend Possen reißen würde, wie ihre grellbunte Bemalung verriet. Allenthalben wurde gebaut; mit Steinen beladene Karren versperrten die Straße, und Kutscher schrien sich an. Schmiede mit schweren Eisenstangen auf der Schulter bahnten sich ihren Weg durchs Gedränge, Wäscherinnen schoben ihre Karren. In einer Seitengasse, an der sie vorbeifuhren, schlachteten Metzger Schweine und ließen das Blut in den Rinnstein sprudeln; ein Bauer trieb einen Haufen Ochsen vorbei, zwei korbtragende Esel sprangen vor dem Hornvieh beiseite und stimmten ein fürchterliches Geschrei an; daneben flanierten Damen in brustbetonenden Tuniken, die Schultern kunstvoll mit Wolltüchern drapiert; Gassenbuben stromerten in Gruppen; Soldatenstiefel dröhnten über das Pflaster, überall blitzten bunte Offiziersuniformen,und noble Kaleschen hielten vor noch nobleren Häusern. Allein der Geräuschpegel mochte ausreichen, einen Provinzburschen in mittlere Panik zu versetzen. Jean-François atmete tief durch. Das ist ja ein
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