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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Jardine, ein großer Nabob schottischer Herkunft. Er ist ein umgänglicher Mensch von hohem Wuchs und erstaunlich jugendlichem Aussehen, wenn man bedenkt, dass er schon Mitte fünfzig ist. Mr. Chinnery hat ein Porträt von ihm gemalt, das allenthalben gepriesen wird. Ich gestehe, ich habe es ebenfalls bewundert, zumindest bis ich Mr. Jardine persönlich kennengelernt habe – mir scheint nämlich, dass Mr. Chinnery ihm sehr geschmeichelt hat. Müsste ich Mr. Jardine malen, würde ich es im Stil von Velázquez’ Philipp IV . von Spanien tun. Mr. Jardine hat ein ebenso glattes, blühendes Gesicht, und in seinem Blick liegt dasselbe Machtbewusstsein, dieselbe Selbstzufriedenheit. Mr. Karabedian sagt, er sei als Arzt nach Kanton gekommen, dann aber der Medizin überdrüssig geworden, weshalb er sich dem Handel zugewandt habe. Er hat Millionen verdient, hauptsächlich mit dem Verkauf von Opium. Er ist so fleißig, dass er in seinem Büro keinen Stuhl hat, aus Angst, das Sitzen könnte ihn zu Trägheit und müßigem Geplauder verführen. Seine Firma heißt Jardine & Matheson, aber sein Partner ist ein unscheinbarer Mann, und Mr. Jardine zeigt sich nur selten mit ihm. Wenn er aus dem Haus geht, ist er fast immer in Begleitung seines Freundes – eines Mr. Wetmore, bei dem es sich um den stets makellos gekleideten großen Dandy von Fanqui-Town handelt. Du solltest einmal sehen, wie ihnen die Passanten Platz machen, wenn die beiden auf dem Maidan ihre Runden drehen: So viele grüßen und ziehen den Hut, dass man meinen könnte, Mr. Jardine sei der Großtürke auf einem Spaziergang mit seiner Lieblings-bibi. Mr. Jardine und Mr. Wetmore gehen sehr rücksichtsvoll miteinander um, und Mr. Karabedian sagt, dass sie auf Bällen (und davon gibt es viele in Fanqui-Town) Walzer und Polkas grundsätzlich füreinander reservieren, obwohl sich alle darum reißen , mit einem der beiden zu tanzen. Doch diese rührende Beziehung könnte leider bald ein Ende finden. Mr. Karabedian meint, Mr. Jardine wird bald das »große Opfer« bringen, womit gemeint ist, dass er Kanton verlassen und nach England zurückkehren wird, um zu heiraten. Noch aber zögere Mr. Jardine, nicht nur wegen seines Freundes , sondern auch weil er einen großen Teil seines Lebens in China verbracht hat und sehr an dem Land hängt.
    Wie Du ja weißt, liebste Paggli, ist für mich nichts von Interesse, wenn ich es nicht betrachten und malen kann. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass dazu auch die Politik gehören würde, doch während ich Mr. Karabedian zuhörte, habe ich damit begonnen, ein geradezu episches Gemälde zu konzipieren: Es ist ein köstlicher Gedanke, denn ich könnte viele Details aus der Bildergalerie in meinem Kopf darin verwenden. Stell Dir vor! In Mr. Jardine habe ich bereits ein Fenster gefunden, durch das ich einen Hauch Velázquez einschmuggeln kann. Andererseits wäre Mr. Wetmore genau der Richtige für einen Versuch im Stil von van Dyck. Und es wird auch Platz für einen Brueghel sein, gleich neben Mr. Jardine – denn Fanqui-Town hat nicht nur einen ungekrönten König, sondern auch einen Prätendenten. Das ist Mr. Lancelot Dent, trotz seines absurden Namens ein veritabler Magnat.
    Du erinnerst Dich vielleicht, liebste Paggli – ich habe Dir einmal einen Stich von einem wundervollen Gemälde von Pieter Brueghel dem Jüngeren gezeigt. Es zeigt zwei Dorfadvokaten: Ich erinnere mich genau an jedes Detail im Gesicht des Jüngeren, das vor Einbildung und Verschlagenheit nur so strotzte. Das ist Mr. Dent, wie er leibt und lebt: Laut Mr. Karabedian ist er genauso reich wie Mr. Jardine und kontrolliert sogar einen noch größeren Teil des Opiumhandels; offenbar hat er sich jahrelang damit begnügt, im Hintergrund zu bleiben, weil er damit beschäftigt war, ein Vermögen anzuhäufen. Jetzt, da er dieses Ziel erreicht hat, greift er nach Mr. Jardines Krone. Mr. Karabedian zufolge ist Mr. Dent beim Studium in Edinburgh unter den Einfluss einer obskuren Doktrin über den Wohlstand der Nationen geraten; er ist ein Anhänger und Apostel dieser Lehre und versucht sie jedem aufzudrängen, dem er begegnet. So abstoßend er auch ist, muss ich doch gestehen, dass er mir manchmal ein klein wenig leidtut: Kannst Du Dir ein grausameres Schicksal vorstellen, als Sklave einer Doktrin über Handel und Ökonomie zu sein? Das ist, als wäre ein Schneider zu der Überzeugung gelangt, dass es auf der Welt nichts gibt, was sich nicht mit seiner Elle messen lässt!
    Je länger

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