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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Bambusstöcken, aber da ich mir nicht vorstellen kann, einen zu tragen, halte ich mich lieber von dieser Straße fern.
    Im Gegensatz zu unseren anderen Straßen ist die Old China Street ein Paradies der Ruhe und Reinlichkeit – eigentlich eher eine Galerie als eine Straße, da sie von Ladengeschäften gesäumt ist. Manche sind ziemlich hoch, wirken aber niedrig neben den Mauern der Faktoreien, die die Straße flankieren. Oben sind die Gebäude durch eine Art Überdachung aus Matten verbunden, sodass es unten, wo man geht, immer kühl und schattig ist, wie auf einem Waldweg. Die Läden sind im höchsten Grade verlockend und stellen ihre Waren auf die bezauberndste Art in Regalen und Vitrinen aus. Es gibt Geschäfte für Lackarbeiten, Zinnwaren, Seide und Souvenirs aller Art. (Die raffiniertesten dieser Andenken sind wundersame vielschichtige, durchbrochene Kugeln, aus Elfenbein in der Weise geschnitzt, dass die äußere Schale weitere, immer kleiner werdende Kugeln umschließt.) Der Name des jeweiligen Ladeninhabers steht auf Englisch und Chinesisch über der Tür, und immer zeigt ein Schild an, welchem Metier er angehört: »Lackarbeiten«, »Zinnwaren«, »Elfenbeinschnitzereien« und dergleichen mehr. Über den Geschäften hängen noch viele andere Wimpel, Banner und gemalte Schilder, und wenn der Wind weht, schimmert und flattert die ganze Straße in kunterbunten Farben. Ein wunderbar pittoresker Anblick.
    Die Ladenbesitzer finde ich noch unterhaltsamer als ihre Geschäfte. Einer meiner Lieblinge ist Mr. Wong, der Schneider; er ist so freundlich und so darum bemüht, seine Waren ins rechte Licht zu rücken, dass es einem grausam vorkommt, einfach vorbeizugehen, ohne auf eine Tasse Tee zu verweilen. Er ist ein echtes Original: Als ich heute Vormittag bei ihm saß, stürzte er hinaus, um einer Gruppe Matrosen zuzuwinken. »Hi! Du da, Jack!«, rief er. »Du da, Matrose! Teufel soll hol! Was-Ding du woll kauf?«
    Die Matrosen waren voll wie die Strandhaubitzen, und einer von ihnen rief zurück: »Was ich kaufen will? Weißt du was, du hammerköpfiger Delphin, ich will eine walisische Wollmütze mit Ärmeln dran kaufen.«
    Mr. Wong schmeichelt sich, dass er jedes Kleidungsstück hat, das sich ein Fanqui nur wünschen kann, und zeigte deshalb auf ein grünes Gewand. »Kann mach, kann mach. Schau-seh hier«, rief er. »Hab da was-Ding Mister Teerjacke woll.«
    Daraufhin hielten sich die Matrosen die Bäuche vor Lachen, und einer von ihnen rief: »Der Teufel soll mich holen! Das Ding da ist so wenig eine walisische Wollmütze, wie du die Queen von England bist!«
    Mr. Wong war, wie Du Dir denken kannst, untröstlich .
    Am fernen Ende der Old China Street, auf der anderen Seite der Thirteen Hong Street, steht das Consoo – oder »Council House«. Es ist im Stil eines Yamen erbaut, also des Amtssitzes einer chinesischen Lokalbehörde. Es ist von einer hohen Mauer umgeben, hinter der sich die aufgebogenen Dächer zahlreicher Hallen und Pavillons erheben. Die Gebäude wirken elegant, doch die meisten Fanquis betrachten das Consoo House mit einer Scheu, die an Furcht grenzt, denn dorthin werden sie zitiert, wenn die Mandarine sie zur Rechenschaft ziehen wollen!
    Doch warum, um Himmels willen, plappere ich von den Straßen und vom Consoo House, wo ich Dir doch von Markwick’s Hotel erzählen wollte? Aber gemach, es ist noch nicht zu spät! Ohne ein weiteres Wort nehme ich Dich jetzt bei der Hand – jawohl! – und führe dich in mein Zimmer.
    Mr. Markwicks Hotel liegt in der kaiserlichen Faktorei, einem der interessantesten der dreizehn Hongs. Sie wird so genannt, weil sie früher einmal mit der österreichisch-ungarischen Monarchie zusammenhing, und obwohl man dort heute nur wenige Österreicher antrifft, prangt über dem Eingang immer noch der habsburgische Doppeladler (weshalb die Faktorei bei den Einheimischen »Zwillingsadler-Hong« heißt).
    Mr. Markwick führt das Hotel zusammen mit seinem Freund , Mr. Lane. Sie sind beide als junge Männer nach China gekommen, um bei der Ostindien-Kompanie zu arbeiten (Mr. Markwick als Kellner und Mr. Lane als Butler), und seither sind sie Freunde auf Lebenszeit . Sie sind ein seltsames Paar und sehen aus, als seien sie einem Kinderreim entsprungen: Mr. Lane ist klein und dick und ein lustiger Knabe, Mr. Markwick dagegen hochgewachsen und schwermütig, und man meint immer, er schnieft, auch wenn er es nicht tut. Im Parterre des Gebäudes führen sie einen Laden, in dem sie

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