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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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hinauswerfen und vielleicht sogar mit Knüppeln auf mich losgehen. Und damit nicht genug: Die meisten Maler Kantons seien miteinander verwandt, sagte er, ich solle mich also am besten von allen fernhalten.
    So ist das also, meine süße Paggli-bibi; jetzt wirst Du verstehen, weshalb ich genau die Leute, die ich gleich nach meiner Ankunft hätte aufsuchen sollen, tunlichst gemieden habe, und ohne Mr. Karabedian würde ich mich auch jetzt noch mit abgewandtem Gesicht an ihren Ateliers vorbeistehlen. Aber als der gute, freundliche Mensch, der er ist, hat Zadig Bey (wie ich ihn inzwischen nenne) mich davon zu überzeugen gewusst, dass ich nichts zu befürchten habe. Lamqua sei ein ausgesprochen liebenswürdiger Mann, sagte er, und hege keinerlei Groll gegen seinen einstigen Lehrmeister; der Unmut liege allein bei Mr. Chinnery, der wütend sei, weil Lamqua sich einen Namen gemacht hat und manche Kunden, die sonst in die Rua Ignacio Baptista gekommen wären, nun zu ihm gehen (dass Lamqua nur die Hälfte von dem nimmt, was Mr. Chinnery verlangt, dürfte dabei allerdings auch eine Rolle spielen).
    Du kannst Dir also vorstellen, wie gespannt ich war, als ich Zadig Bey in Lamquas Atelier folgte. Es war mir natürlich nicht unbekannt, denn es liegt nur ein paar Häuser von meinem Hotel entfernt, und man kann es unmöglich übersehen, wenn man durch die Old China Street geht. Denn direkt über der Tür hängt ein verführerisches Schild mit der Aufschrift »Lamqua: Schöne Gesichter Maler«.
    Es ist ein dreigeschossiges Gebäude wie viele andere in der Straße, mit einer Holzfassade und kunstvoll geschnitzten Schiebefenstern in den oberen Stockwerken. Tagsüber stehen die Fenster häufig offen, und man sieht die Lehrlinge mit Pinsel und Stift über ihre Tische gebeugt – und ich schwöre Dir, liebe Paggli, man erkennt sofort, dass sie genau das sind, was das Schild verspricht: Maler mit schönen Gesichtern.
    Kannst Du Dir vorstellen, mein liebes Pagglikätzchen, wie mein Herz klopfte, als ich durch diese Tür ging? Aladin hätte am Eingang seiner Höhle nicht aufgeregter sei können! Und ich wurde nicht enttäuscht, denn wo ich auch hinschaute, überall gab es etwas Kurioses, Interessantes oder ganz und gar Neuartiges zu sehen. In Schaukästen lagen Dutzende von Malereien, die in dem Atelier entstanden sind: Bilder von allem, was Besucher interessieren mochte, Chinesisches wie Ausländisches – denn genauso begehrt, wie Bilder von Fanqui-Town bei den Ausländern sind, weil die Enklave eine so unbeschreiblich himmlische Wirkung auf sie ausübt, sind sie es auch bei den Chinesen, denen derselbe Anblick wiederum so fremdartig erscheint. Ein riesiger Markt für Veduten von Kanton ist entstanden, und daneben werden zahllose Bilder von Tieren, ländlichen Szenen, Pagoden, Pflanzen, Fiedlern, Mönchen und Fanquis angeboten. Manche sind auf kleine Karten gemalt, nicht größer als Deine Handfläche, und werden für ein paar Käsch verkauft. Sie haben ein wahres Fieber ausgelöst und werden überall kopiert – Zadig Bey sagt, in Europa würden sie »Postkarten« genannt und seien der letzte Schrei.
    Verkauft werden auch Lack-Tuschkästen und Papierbündel. Ich dachte immer, es handle sich dabei um Reispapier, aber Zadig Bey hat mich darüber aufgeklärt, dass es gar nichts mit Reis zu tun hat. Es wird aus dem Mark einer bestimmten Schilfart hergestellt, das flach geklopft und dann mit Alaun behandelt wird. Das konserviert die Farben, sodass sie viele Jahre lang wunderbar frisch bleiben. Und dann die Pinsel: Manche haben nur ein einziges Haar, andere sind so dick wie mein Handgelenk, und man verwendet dafür die Haare eines ganz unwahrscheinlichen Bestiariums; hier gibt es Tiere, die dem Rest der Welt völlig unbekannt sind.
    Über eine schmale Treppe – eigentlich nur eine Leiter mit Geländern – gelangt man in den ersten Stock und findet sich im eigentlichen Herzen des Ateliers wieder. Mehrere lange Tische stehen dort, ähnlich denen von Schreinern und Schneidern. Die Lehrlinge sitzen auf Bänken, und jeder hat seinen eigenen Arbeitsplatz, an dem seine Gerätschaften ordentlich aufgereiht sind; nirgends sieht man einen Farbklecks oder einen Tuscheschmierer. Sie sitzen mit gesenktem Kopf, den Zopf um ihre Mütze geschlungen, und stören sich nicht im Mindesten daran, wenn man ihnen zuschaut, denn sie sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es gar nicht merken.
    Und jetzt offenbarte sich mir eines ihrer wichtigsten Geheimnisse,

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