Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ich um Bleistift und Papier.
Wie Du weißt, meine liebe Pugglowna, bin ich mit einem ausgezeichneten Gedächtnis für Bilder gesegnet, und so konnte ich binnen kurzer Zeit eines anfertigen, das einen durchaus passablen Eindruck von dem betreffenden Gemälde (einer Ansicht von Macao) vermittelt. Zadig Bey sagte später allerdings, ich hätte unbesonnen gehandelt, denn Mr. Chinnery werfe Lamqua ja gerade vor, dass er seinen Malstil nachahme. Doch das kümmert mich offen gestanden keinen Deut . In meinen Augen hat ein Mann, der die Frucht seiner Lenden so schmählich vernachlässigt, nicht das Recht, das Werk seiner Hände zu schützen.
Und das, meine liebe Paggli, bringt mich auf das Thema, das Dich am meisten interessiert: Deine Kamelien. Denn Lamqua war so entzückt von meiner kleinen Gabe, dass er mich sogleich fragte, ob er etwas für mich tun könne. Das ermutigte mich, ihm Mr. Penroses Bild zu zeigen. Ich sagte ihm, es gehöre einem Freund, der dringend etwas über Motiv und Herkunft der Darstellung zu erfahren wünsche.
Lamqua erklärte sogleich, er habe die Blume noch nie gesehen, was ihn aber nicht hinderte, das Bild genauestens zu untersuchen. Er drehte es um und um, befühlte das Papier und feuchtete sogar die Ränder an. Was den Stil betreffe, sagte er, sei er so gut wie sicher, dass es aus Kanton stamme, und der Zustand des Papiers lasse darauf schließen, dass es etwa dreißig Jahre alt sei. Was jedoch den Maler anbelangte, so zögerte er, eine Vermutung zu wagen. Er gab mir zu verstehen, dass Illustratoren, die sich auf botanische und zoologische Themen spezialisieren, ein wenig abseits vom Gros der Kantoner Künstler stehen; im Gegensatz zu den meisten anderen Malern leisten sie keine Lehrzeit in einem Atelier ab, sondern treten in die Dienste europäischer Botaniker und Sammler, die sie in den besonderen, ihren Zwecken entsprechenden Methoden ausbilden. In China sieht man ihre Arbeiten deshalb nur selten; die Bilder werden zusammen mit den botanischen Sammlungen nach Europa geschickt.
Lamqua verstummte und dachte eine Weile nach. Er selbst könne mir nicht weiterhelfen, sagte er dann, aber er kenne einen Mann, der möglicherweise dazu in der Lage sei, einen Pflanzen- und Bildersammler, eine Autorität auf beiden Gebieten. Wenn überhaupt jemand, so könne er mich auf die richtige Spur bringen.
Und wer ist dieser Sammler? Zadig Bey kannte den Namen: Es ist ein Magnat der Cohong-Gilde, ein märchenhaft reicher Kaufmann namens Punhyqua. Lamqua kennt ihn gut und sagte, einer seiner Lehrlinge werde dafür sorgen, dass man mich zu ihm bringe.
Der Lehrling wurde gerufen – und da, liebe Paggli, geschah es! Bei seinem Eintreten wusste ich sofort, dass dies keine alltägliche Begegnung war. Ein Schauer überlief mich, und meine Hände flogen an meine Brust, als wollten sie die Schläge einer Trommel dämpfen.
Er heißt Jacqua, aber glaube nun nicht, dass ich von einem Adonis oder einem goldenen, pfirsichpflückenden Botticelli-Jüngling spreche – mitnichten. Jacqua ist weder groß noch athletisch gebaut, aber in seinem Gesicht ist ein Leuchten, in seinen Augen ein Glanz ruhiger, konzentrierter Klugheit, den kein Pinsel je einzufangen vermag. Tatsächlich, muss ich gestehen, findet sich in meinem Gedächtnis kein Bild, kein Porträt, dem Jacqua gliche! Es kommt nicht oft vor, dass ich einem solchen Menschen begegne (niemand weiß besser als Du, liebe Paggli, wie viele Bilder in meinem Kopf gespeichert sind), aber wenn es geschieht, dann ist es stets seltsam erregend, weil ich dann weiß, dass ich das Neue vor mir habe, dass ich an der Schwelle zu einer Entdeckung, zu einem Sturz, zu einem Abenteuer stehe …
Ach, meine süße Prinzessin von Pagglowia, ich würde Dich bitten, für mich zu beten , wenn Du es könntest … denn möglicherweise habe ich endlich den Einen gefunden, den wahren Freund, den ich immer gesucht habe.
Hinzufügen möchte ich noch, dass dies nicht die einzige Begegnung war, die der Himmel mir diese Woche geschickt hat. Ich habe nämlich auch einen ganz erstaunlichen Kurier gefunden – aber Du wirst ihn ja kennenlernen.
Als Bahram eines Morgens – die Luft war frisch, aber noch nicht kalt – aus dem Fenster des daftars schaute, sah er, dass die meisten Einheimischen ihre Sommersachen gegen wärmere Kleidung eingetauscht hatten. Verschwunden waren die Baumwolltuniken und -hosen, die leichten Pantoffeln und die Seidenkappen, und an ihre Stelle waren wattierte Gewänder getreten,
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