Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Gesicht sehen, um zu wissen, warum der Herr gewollt hat, dass ich die Boote nach Kanton bringe: um die Vernichtung dieser sündhaften Stadt zu beschleunigen. Sollte ich diesem Ziel damit gedient haben, kann mich das nur freuen. Und wenn mein Verbleiben hier die Stunde der Vergeltung näher rücken lässt, nun, dann betrachte ich es als meine Pflicht, zu bleiben.«
Er hielt inne und sah sich im Raum um, dann spuckte er auf den Boden. »Es gibt nicht einen unter Ihnen, der nicht genau wüsste, dass ich gegen euch verdammte feine Herren ein Unschuldslamm bin, ein Ehrenmann. Und einzig und allein aus diesem Grund, lassen Sie sich das gesagt sein, meine Herren, könnte ich mich entschließen, Kanton zu verlassen: weil nicht einer unter Ihnen ist, der es wert wäre, mit James Innes Umgang zu pflegen.«
12. Dezember
Ich kann es kaum fassen, liebste Paggli, dass dieser Brief nun schon so viele Tage auf meinem Schreibtisch liegt. Aber das tut er, denn es war mir nicht möglich, ein Boot zu finden, das ihn nach Hongkong bringt. Dank Mr. Innes, der Kanton noch immer nicht verlassen hat, ist der Handel vollständig zum Erliegen gekommen.
Aber seltsamerweise, Pagglie-chérie, ist dies eine wunderbar glückliche Zeit für mich, so sehr, dass ich es nicht im Mindesten bedauern würde, wenn der Handel für immer eingestellt bliebe! Denn noch nie hat mir das Malen so viel Freude bereitet wie in den letzten Tagen. Jacqua sitzt mir Modell, wann immer er kann, und ich muss gestehen, ich arbeite nicht immer so zügig, wie ich es könnte – nicht nur, weil seine Gesellschaft so angenehm, sondern auch, weil sie äußerst lehrreich ist. Es wird dich vielleicht überraschen, dass er nicht im Mindesten gekränkt darüber war, mit unbekleidetem Oberkörper gemalt zu werden. Er war sogar so freundlich, meine Arbeit zu korrigieren und darüber hinaus auch zu verschönern , und auf diese Weise erfuhr ich, dass er und die anderen jungen Schüler im Atelier eingehend die anatomische Malerei studieren. Darauf besteht Lamqua, der sich häufig in Dr. Parkers Hospital begibt, um Patienten zu malen, die dort operiert wurden. Diese Bilder sind wirklich außergewöhnlich , nie zuvor habe ich Ähnliches gesehen. Sie zeigen Menschen, denen Arme oder Beine amputiert wurden, und auch solche, die an schrecklichen Krankheiten leiden, und das Erstaunliche ist, dass sie keineswegs makaber oder voyeuristisch wirken, obwohl sie penibel detailliert und unerbittlich präzise ausgeführt sind. Ich selbst würde mit Sicherheit umkippen, wenn ich mir solche Entstellungen und Verletzungen länger ansehen müsste (aber ich bin ja auch etwas zart besaitet , wie Du weißt). Doch Lamquas Bilder zeugen von so viel Mitgefühl, dass ich zu der Ansicht neige, es könnte sogar die Heilung fördern, von ihm gemalt zu werden. Er stellt den menschlichen Körper so dar, als wären Verstümmelung und Unvollkommenheit nicht die Ausnahme, sondern die Regel , Beweis des Lebens selbst. Es ist ein Blick auf die Anatomie, wie man ihn in einer Leichenhalle oder beim Sezieren von Leichen nie erwerben könnte – denn das menschliche Fleisch ist nie ohne Leben und umgekehrt.
Auch Jacqua hat etwas von diesem unerschrockenen und doch liebevollen Blick auf den Körper übernommen, und wenn er mich korrigiert, kommt es mir manchmal vor, als würde er mich tadeln , denn er lacht und sagt, ich male menschliches Fleisch, wie ein Tiger es vielleicht tun würde, so als wäre es etwas zu fressen . Ich habe mir daraufhin noch einmal Gedanken über den Del-Sarto-Torso auf meiner Leinwand gemacht und erkannt, dass seine Schwächen genau in der Perfektion liegen, mit der das Fleisch gemalt ist: Es vermittelt nichts vom Geist des Motivs und scheint sogar in krassem Widerspruch zu ihm zu stehen.
Aber das ist nur von Vorteil, denn es macht mir nicht das Geringste aus, von Jacqua kritisiert zu werden. Es gibt mir einen Grund, noch einmal ganz von vorn anzufangen, und manchmal erlaubt mir Jacqua sogar, vom lebenden Modell zu skizzieren, was ich sehr viel befriedigender finde, als wenn ich mir ein Gemälde ins Gedächtnis zurückrufen muss, das ich – außer als Reproduktion – nie gesehen habe.
Doch das ist noch nicht alles, mi querida Pagglazòn. Ich habe meinen ersten Auftrag bekommen! Und vom wem, wirst Du fragen. Nun, von niemand anders als Mr. King, meinem jungen Géricault! Er hat mich vor ein paar Tagen auf dem Maidan angesprochen und gesagt, er habe wegen der Unterbrechung des Handels im Moment
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