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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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erfährst, wie ich das feststellte, wirst Du voll und ganz verstehen, liebe Paggli, dass ich danach viele Tage lang zu niedergeschlagen war, um das Bett zu verlassen.
    Und das kam so:
    Jacqua und ich hatten verabredet, dass er mir am Nachmittag des Dreizehnten (dem Tag nach den Unruhen) Modell sitzen würde. Ich blieb also zu Hause und wartete auf ihn, fast bis Sonnenuntergang, und als er nicht erschien, ging ich in Lamquas Atelier, um mich nach ihm zu erkundigen. Schon beim Eintreten merkte ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, denn statt der üblichen, von einem Lächeln begleiteten chin-chins begrüßten mich düstere Blicke und gereiztes Stirnrunzeln. Von Jacqua war nichts zu sehen, und keiner der Schüler wollte mir sagen, warum, sodass ich mich an Lamqua selbst wenden musste.
    Folgendes erfuhr ich: Am Morgen des Aufruhrs saßen Jacqua und seine Mitschüler im Atelier, als draußen die Soldaten vorbeimarschierten. Das weckte ihre Neugier, und sie liefen unter Missachtung von Lamquas inständigen Bitten auf den Maidan hinaus. So kam es, dass sie im Weg standen, als die Ausländer zu randalieren begannen, und Jacqua hatte das Pech, dass ein paar betrunkene Matrosen auf ihn losgingen und ihm einen Schlag versetzten, der ihm den Arm brach.
    Du kannst Dir vielleicht vorstellen, liebe Paggli, welch schmerzliche Wirkung diese Nachricht auf mich hatte! Ich will Dir nicht verhehlen, dass ich geweint habe! Am liebsten hätte ich meinen verletzten Freund auf der Stelle besucht, aber sein Haus liegt natürlich in der verbotenen Stadt – und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich nicht dorthin gekonnt. Lamqua meinte, ein Fanqui solle sich im Moment besser nicht weiter weg wagen, um nicht den Zorn der Einheimischen auf sich zu ziehen.
    Und als wäre das alles noch nicht niederschmetternd genug, fingen mich beim Verlassen des Ateliers auch noch einige der Schüler ab, und diese Jungen, die immer so freundlich gewesen waren, bombardierten mich nun förmlich mit Schmähungen und Beleidigungen. Was sie genau sagten, weiß ich nicht mehr, aber im Wesentlichen ging es darum, dass die Fanquis kaum besser seien als Banditen und Mörder, dass uns die Regeln eines zivilisierten Zusammenlebens unbekannt seien, dass wir es nicht verdient hätten, in Kanton zu leben usw. usw.
    Du kennst mich, liebe Paggli, und wirst daher vielleicht verstehen, weshalb ich so erschlagen war und mich viele Tage lang nicht aufraffen konnte, mein Zimmer zu verlassen. Weihnachten kam, Neujahr kam, und obwohl ich mehrere Einladungen hatte, blieb ich zu Hause. Die Vorstellung, wieder ins Fanqui-tum einzutauchen und womöglich den Männern zu begegnen, die Jacqua attackiert hatten, machte mich, wie ich gestehen muss, tief unglücklich .
    Oft genug habe ich mir in der Vergangenheit gewünscht, ich wäre nie geboren worden, aber niemals zuvor hat sich dieses Gefühl so stark in meiner Brust geregt wie jetzt. Ich sagte mir, ich sollte Kanton verlassen, es wäre falsch und unzumutbar, an einem Ort zu verweilen, an dem man nicht willkommen ist, aber ich vermochte den Gedanken, dass ich nirgendwo sonst das Glück finden würde, das ich hier genossen hatte, nicht aus meinem Kopf zu verbannen. Wie konnte ich ausgerechnet von dem Ort fortgehen, der mir den Schatz geschenkt hat, den ich immer gesucht und nie gefunden hatte – Freundschaft?
    Ich weiß nicht, was ohne Zadig Bey aus mir geworden wäre – nur ihm habe ich es zu verdanken, dass ich nicht Hungers gestorben bin. Auch Charlie hat mich einige Male besucht, aber er ist im Moment stark von der augenblicklichen Situation in Anspruch genommen und hat deshalb sehr wenig Zeit. Er hatte sich entschlossen, mittels einer Unterschriftenliste darauf zu dringen, dass die ausländischen Kaufleute den Opiumhandel einstellen und ihre Bestände herausgeben. Wie jedoch nicht anders zu erwarten, hat er damit nur Zorn und Spott geerntet und verharrt nun in tiefer Mutlosigkeit, sodass er nicht in der Lage ist, Freunde aufzumuntern.
    Wie lange ich in diesem elenden Zustand noch verharrt hätte, vermag ich nicht zu sagen, ich bin jedoch überzeugt, dass er, wäre Zadig Bey nicht gewesen, sehr viel länger angehalten hätte. Am Neujahrstag nämlich erbot sich Zadig Bey, mir einen lange und sehnlichst gehegten Wunsch zu erfüllen: von der Höhe des Sea-Calming Tower auf Kanton hinabzublicken. Schon länger hatte er mir zugeredet, wieder auszugehen, die Lage habe sich seit der Abreise des abscheulichen

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