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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Mr. Innes (ja, er hat tatsächlich die Stadt verlassen) deutlich entspannt. Er hatte sogar eine Sänfte für mich bestellt, für den Fall, dass ich geltend machen würde, ich sei zu geschwächt für einen so weiten Fußmarsch. Dieser Ausrede beraubt, konnte ich nicht mehr Nein sagen – und ich bin außerordentlich froh darüber, denn es ist in der Tat ein wunderbares Erlebnis, die ganze Stadt vor sich ausgebreitet zu sehen!
    Vielleicht erinnerst Du Dich, liebe Paggli, dass ich Dir einmal eine Kopie von El Grecos »Blick auf Toledo« gezeigt habe. Versuch Dir diese grauen Mauern vorzustellen, nur wesentlich länger und von der Form einer riesigen Glocke, dann erhältst Du einen Eindruck von den Konturen der ummauerten Stadt. Die Mauern umschließen eine Kreuzschraffur zahlloser Straßen und Wege, von engen Gassen bis hin zu breiten, von Triumphbögen überspannten Prachtstraßen. Doch ob breit oder schmal – die Durchgangsstraßen verlaufen sämtlich schnurgerade und kreuzen sich rechtwinklig. Die einzelnen Stadtteile und Bezirke sind leicht voneinander zu unterscheiden: Die Viertel, in denen die Mandschu-Beamten ihre Yamen haben, springen ebenso ins Auge wie die, in denen sich die Hütten der Armen drängen. Die öffentlichen Plätze und Monumente mit ihren Dächerkaskaden und hoch aufragenden Türmen stechen hervor wie die größten Figuren auf einem Schachbrett.
    Erst jetzt wurde mir bewusst, wie glücklich ich mich schätzen konnte, einen Cicerone wie Zadig Bey zu haben: Er hat die Stadt genau studiert und kennt alle ihre markanten Punkte. Er hatte ein Fernglas dabei und zeigte sie mir einen nach dem anderen, zuerst den Tempel, der die Gründung der Stadt kennzeichnet – sie ist etwa so alt wie Rom! Und wie im Falle Roms sollen auch bei der Gründung Kantons die Götter ihre Hand im Spiel gehabt haben: Fünf Gottheiten seienvomHimmel herabgestiegen, heißt es, und hätten eine Stelle am Fluss markiert. Sie seien auf Widdern geritten, jeder mit einem Getreidehalm im Mund, und hätten die Halme den Menschen am Ufer übergeben, zusammen mit dem Segenswunsch: »Möge niemals Hunger eure Märkte heimsuchen.«
    Diese seltsame Geschichte und der Anblick der zu meinen Füßen ausgebreiteten Stadt übten eine starke Wirkung auf mich aus, wie ich gestehen muss. Mehr denn je machten sie mir mein Fremdsein bewusst, die Distanz zwischen mir und dieser Stadt. Ich musste an die Schmähungen denken, die Lamquas Schüler mir an den Kopf geworfen hatten, und mir kam der Gedanke, dass sie vielleicht nur die Wahrheit gesagt hatten: Vielleicht ist es wirklich ein unentschuldbarer Übergriff, wenn jemand wie ich seine Gegenwart einem Ort aufzudrängen sucht, der so einzigartig ist, so alt, so sehr ein Gewächs seines eigenen Bodens.
    Doch Zadig Bey wollte nichts davon hören. Das eigentlich Überraschende sei, dass es in Kantons Straßen und Gassen allenthalben Zeugnisse des Aufenthalts Fremder gebe. »Sogar die Schutzgottheit der Stadt ist eine Ausländerin – eine Achha!«
    »Unmöglich!«, rief ich, aber er blieb dabei, und zur Bekräftigung wies er mit seinem Fernglas auf einen nahe gelegenen Tempel. Er war der Göttin Kuan-yin geweiht, einer buddhistischen Nonne aus Hindustan, die nicht, wie es ihr möglich gewesen wäre, ein Bodhisattwa werden wollte, sondern es vorzog, sich um das einfache Volk zu kümmern.
    Ist es nicht verblüffend , liebe Paggli, dass Kantons Schutzgeist eine Frau war, die einmal einen Sari getragen hat?
    Ich hatte mich noch kaum von der Überraschung erholt, da deutete Zadig Bey mit dem Fernglas auf einen anderen, weit entfernten Tempel: Jahrhundertelang hätten dort Buddhisten aus Hindustan gelebt, sagte er, darunter als berühmtester ein Mönch aus Kaschmir namens Dharamyasa.
    Und das ist noch nicht alles! Am Ufer des Flusses steht ein Tempel, der von Bodhidharma errichtet wurde, dem berühmtesten der buddhistischen Missionare; er kam aus Südindien nach Kanton und wurde möglicherweise in Madras geboren!
    Und auch damit noch nicht genug. Zadig Bey zeigte auf ein Dach, das zu einer Moschee gehörte. Sie sei noch zu Lebzeiten des Propheten Mohammed erbaut worden, sagte er, und damit eine der ältesten der Welt! Es ist ein höchst bemerkenswerter Bau, äußerlich nicht von einem chinesischen Tempel zu unterscheiden, bis auf ein Minarett, wie man es an jedem dargah in Bengalen findet!
    Doch wie war es möglich, fragte ich Zadig Bey, dass Menschen aus Hindustan, Arabien und Persien in einer für Ausländer

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